Das Bundessozialgericht (BSG) hat am Ende entschieden, dass eine schwerbehinderte Rentnerin, die in einem Pflegeheim lebt und dort Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII erhรคlt, Anspruch auf Erstattung der Kosten fรผr eine sogenannte Wertmarke zur unentgeltlichen Befรถrderung im รถffentlichen Nahverkehr hat.
Zuvor hatten Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) unterschiedlich geurteilt. Jetzt muss der beklagte Leistungstrรคger der Klรคgerin die 91 Euro zurรผckzahlen, die sie fรผr die Wertmarke aufbringen musste (Az: B 9 SB 2/23 R)
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Hintergrund des Falls
Die Klรคgerin ist 1940 geboren und hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 sowie das Merkzeichen โGโ (erhebliche Gehbehinderung). Sie lebt in einem Pflegeheim und erhรคlt dort Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII. Allerdings bezieht sie keine zusรคtzlichen Sozialhilfeleistungen fรผr ihren Lebensunterhalt (z.B. aus dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII), da sie รผber anrechenbares Einkommen verfรผgt.
Im Jahr 2021 beantragte sie beim zustรคndigen Versorgungsamt eine kostenlose Wertmarke, die schwerbehinderten Menschen normalerweise eine unentgeltliche Befรถrderung in รถffentlichen Verkehrsmitteln ermรถglicht. Das Amt lehnte ab, weil die Klรคgerin nicht โlaufende Leistungen zum Lebensunterhaltโ im Sinne des Gesetzes erhรคlt.
Streit um die Erstattung von 91 Euro
Trotz der Ablehnung kaufte die Klรคgerin im Jahr 2021 die Wertmarke selbst โ allerdings musste sie dafรผr ein Darlehen vom Sozialhilfetrรคger aufnehmen, das sie in Raten zurรผckzahlte.
So entstand ihr ein Eigenanteil von 91 Euro, den sie sich nun vom Beklagten erstatten lassen wollte. Sie war der Auffassung, dass auch Empfรคnger von Hilfe zur Pflege in einem Pflegeheim nicht schlechtergestellt sein sollten als andere Menschen, die Sozialhilfe zum Lebensunterhalt bekommen und deshalb eine kostenlose Wertmarke erhalten.
Urteile der ersten und zweiten Instanz
- Sozialgericht Braunschweig (1. Instanz)
Das Sozialgericht gab der Klรคgerin Recht. Es verurteilte den Beklagten, die 91 Euro zu erstatten. Auch wer Leistungen aus dem Sozialhilfesystem erhalte und in einem Pflegeheim lebe, gehรถre zum anspruchsberechtigten Personenkreis. - Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (2. Instanz)
Das LSG sah dies anders und hob das Urteil des Sozialgerichts auf. Die Klรคgerin sei nicht bezugsberechtigt, weil sie keine Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII beziehe. Die reine โHilfe zur Pflegeโ im Siebten Kapitel des SGB XII reiche nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht aus.
Entscheidung des Bundessozialgerichts
Die Klรคgerin ging in Revision zum Bundessozialgericht โ mit Erfolg. Das BSG entschied, dass die Vorinstanz (das LSG) die Klรคgerin zu Unrecht aus dem Anspruchskreis ausschloss.
Das Urteil des LSG wurde aufgehoben und das ursprรผngliche Urteil des Sozialgerichts Braunschweig wiederhergestellt. Damit steht fest: Der Beklagte muss der Klรคgerin die 91 Euro zurรผckerstatten und trรคgt auch ihre auรergerichtlichen Kosten in Berufung und Revision.
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Wer erhรคlt eine kostenlose Wertmarke?
Nach ยง 228 Abs. 4 Nr. 2 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen mit dem Merkzeichen โGโ unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine kostenlose Wertmarke.
Das Gesetz verlangt aber ausdrรผcklich โlaufende Leistungen fรผr den Lebensunterhalt nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XIIโ. Betroffene, die ausschlieรlich Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII bekommen, tauchen im Gesetzeswortlaut nicht auf.
Gesetzliche Lรผcke durch Systemwechsel
Das BSG stellte jedoch fest, dass die fehlende Erwรคhnung von Pflegeheimbewohnern, die nur Hilfe zur Pflege beziehen, eine โplanwidrige Regelungslรผckeโ darstellt. Ursprรผnglich sollten schwerbehinderte Heimbewohner, die bedรผrftig sind, alle gleichbehandelt werden.
Als das alte Bundessozialhilfegesetz (BSHG) durch das SGB XII ersetzt wurde, ging diese Gleichstellung von โHeimbewohnern mit Hilfe zum Lebensunterhaltโ und โHeimbewohnern mit Hilfe zur Pflegeโ in der Rechtsnorm verloren.
Nach dem SGB XII fiel die Klรคgerin damit auf einmal aus dem Wortlaut heraus, obwohl sie genauso bedรผrftig und auf Sozialhilfe angewiesen ist โ nur eben in Form von Hilfe zur Pflege.
Gleiche Behandlung aller bedรผrftigen Heimbewohner
Aus Sicht des Gerichts verstoรe es gegen das Gebot der Gleichbehandlung, wenn allein der formale Umstand, dass die Klรคgerin ihren Lebensunterhalt รผber Rente abdeckt und nur Hilfe zur Pflege bezieht, ihr die kostenlose Befรถrderung verwehren wรผrde.
Da das Gesetz hier eine unbeabsichtigte Lรผcke enthรคlt, muss es entsprechend (โanalogโ) angewendet werden. Ergebnis: Auch Empfรคnger von Hilfe zur Pflege in einem Pflegeheim haben Anspruch auf eine kostenlose Wertmarke, wenn sie bedรผrftig sind.
Bedeutung des Urteils
Das BSG stellt klar, dass nicht nur jene schwerbehinderten Menschen von den Kosten fรผr die Wertmarke befreit sind, die Leistungen zum Lebensunterhalt erhalten, sondern auch diejenigen, die ausschlieรlich Hilfe zur Pflege in stationรคren Einrichtungen beziehen.
Damit werden Pflegeheimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung โ die auf Sozialleistungen angewiesen sind โ weiterhin von der Eigenbeteiligung verschont. Zugleich stรคrkt die Entscheidung das Prinzip, dass sozialhilfebedรผrftige Heimbewohner gleich zu behandeln sind, unabhรคngig davon, ob ihre Hilfe โLebensunterhaltโ oder โPflegeโ genannt wird.
Fรผr Betroffene bedeutet das konkret: Sollte ein Amt die kostenlose Wertmarke mit der Begrรผndung verweigern, man beziehe keine klassischen โLeistungen zum Lebensunterhaltโ nach dem SGB XII, kann diese neue Rechtsprechung helfen, trotzdem eine Erstattung oder Befreiung zu erwirken.




