Ein aktuelles Urteil des Sozialgerichts München ( S 52 SB 686/21) zeigt mit ungewöhnlicher Klarheit, warum das Merkzeichen „B“ (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) auch bei einem GdB 100 und den Merkzeichen „H“ und „Gl“ scheitern kann. Im Mittelpunkt steht nicht die Diagnose an sich, sondern die regelmäßige Abhängigkeit von fremder Hilfe im öffentlichen Verkehr.
Genau hier trennte das Gericht scharf: gelegentliche Unterstützung in unbekannter Umgebung reicht nicht, regelmäßige Hilfe in einem Großteil der Fahrten muss nachweisbar sein.
Inhaltsverzeichnis
Der konkrete Fall: CI-Versorgung, GdB 100, „H“ und „Gl“ – aber kein „B“
Der Kläger war seit früher Kindheit gehörlos, später beidseitig mit Cochlea-Implantaten versorgt, der Gesamt-GdB 100 blieb bestehen, ebenso die Merkzeichen „H“, „RF“ und „Gl“. Nach einer Nachprüfung entzog die Behörde „G“ und „B“. Vor Gericht stand am Ende nur noch „B“ zur Debatte, da „G“ von der Klägerseite nicht weiterverfolgt wurde.
Die medizinische Sachverständige bestätigte, dass der Betroffene mit CI funktional so hört, dass regelmäßige Hilfe beim Ein- und Aussteigen, während der Fahrt oder zur Orientierung nicht belegt sei; Hilfe werde vor allem in ungewohnter Umgebung benötigt. Das Gericht folgte dem und wies die Klage ab.
Der rechtliche Dreh- und Angelpunkt: „Regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen“
Das Merkzeichen „B“ knüpft an harte Kriterien: Es genügt nicht, dass eine anerkannte Schwerbehinderung vorliegt oder einzelne Situationen Unterstützung erfordern, vielmehr muss bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel insgesamt ein regelmäßiger, dauerhafter Hilfe- und Orientierungsbedarf bestehen, der einen überwiegenden Teil der Wege betrifft.
Wer nur manchmal Hilfe benötigt, weil neue Strecken, Flughafenkontrollen oder Menschenmengen belasten, erfüllt die Schwelle nicht. Genau daran scheiterte die Zuerkennung: Alltagsmobilität im vertrauten Umfeld war ohne Begleitperson möglich, und damit fehlte die für „B“ erforderliche Regelmäßigkeit.
Strategischer Fehler vermeiden: „G“ nicht aus dem Auge verlieren
Das Urteil legt offen, wie stark „B“ und „G“ zusammenhängen. In der Praxis wird „B“ häufig über „G“ eröffnet, weil „G“ die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr belegt und damit einen gewichtigen Türöffner für den Begleitbedarf liefert.
Wer „B“ will, sollte „G“ mitbeantragen oder mitverfolgen und auf Orientierungs- und Kommunikationsstörungen im Verkehrsraum abstellen, die über den Hörverlust hinausgehen können (zum Beispiel Blick-, Balance-, Visus- oder kognitive Faktoren). Im Münchener Verfahren fiel „G“ aus der Argumentation heraus, und damit fehlte ein zentrales Standbein für „B“.
Cochlea-Implantate: Verbesserte Funktion ist kein Automatismus – aber ändert die Beweislast
Die Entscheidung macht deutlich, dass eine CI-Versorgung kein Automatismus in die eine oder andere Richtung ist. CI können die funktionelle Hör- und Sprachfähigkeit erheblich verbessern; je besser die alltagspraktische Verständigung gelingt, desto genauer schauen Behörden und Gerichte auf den tatsächlich fortbestehenden Hilfebedarf.
Wer trotz CI regelmäßig Hilfe benötigt, muss das konkret, wiederkehrend und kontextbezogen nachweisen. Subjektive Unsicherheit oder nachvollziehbare Belastung reichen dafür nicht aus, wenn sie nicht in objektive, häufige Unterstützungssituationen im ÖPNV übersetzt werden.
„H“ bis Ausbildungsende hilft – ersetzt aber die Begründung für „B“ nicht
„H“ (Hilflosigkeit) kann bis zum Ende der Ausbildung bestehen, weil gerade in Schule, Studium und beruflicher Erstausbildung erhöhter Kommunikations- und Unterstützungsbedarf entsteht. Diese Systematik lässt „B“ jedoch nicht automatisch folgen.
Das Urteil trennt die Ebenen sauber: Hilflosigkeit in Ausbildung begründet besondere Nachteilsausgleiche, doch für „B“ bleibt die Mobilitätsfrage im Vordergrund. Entscheidend ist, ob ohne Begleitperson regelmäßig keine gleichwertige Nutzung von Bus und Bahn möglich ist.
UN-BRK als Rahmen – der Einzelfall entscheidet über die Hürde „regelmäßig“
Der pauschale Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention trägt eine inklusive Auslegung, ersetzt aber nicht die tatbestandliche Prüfung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Der Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe verlangt praxisgerechte, konkrete Darlegung:
Wo, wann und wie oft brauchte es Hilfe, welche Handlungen waren ohne Begleitung nicht möglich, und welche kompensatorischen Maßnahmen (technische Hilfen, Funkverbindung in Lehrveranstaltungen, Apps, Trainings) reichen nicht aus, um die Mobilität im Regelfall sicherzustellen?
So belegen Betroffene „regelmäßige“ Hilfe – ohne sich zu verzetteln
Entscheidend ist eine stringente Beweisführung, die den Alltag abbildet. Ein Mobilitäts-Tagebuch über mehrere Wochen, das Linien, Uhrzeiten, Strecken und Situationen festhält, in denen Hilfe erforderlich war, schafft Muster. Ergänzend helfen ärztliche Stellungnahmen nicht nur aus der HNO, sondern – je nach Problemlage – auch aus Ophthalmologie, Neurologie, Psychiatrie/Psychotherapie oder Neuro-/Vestibular-Diagnostik, wenn Orientierungs-, Gleichgewichts- oder Verarbeitungsstörungen den Verkehr maßgeblich erschweren.
Nachteilsausgleiche in Schule/Uni/Arbeit, Zeugnisse von Begleitpersonen oder Fahrpersonal und Protokolle von Assistenz-Einsätzen erhöhen die Dichte der Belege, wenn sie konkret auf ÖPNV-Situationen bezogen werden. Wichtig ist, Verlässlichkeit zu zeigen: Es genügt nicht, drei außergewöhnlich problematische Fahrten vorzulegen, maßgeblich ist die Regelmäßigkeit über den Alltag hinweg.
Nachprüfung, § 48 SGB X und Dauerverwaltungsakte: Was das für Bescheide bedeutet
Im Schwerbehindertenrecht arbeiten die Behörden mit Dauerverwaltungsakten, die bei wesentlicher Änderung angepasst werden. Verbessert sich die funktionale Lage – zum Beispiel durch erfolgreiche CI-Rehabilitation –, prüfen die Stellen, ob Merkzeichen noch gerechtfertigt sind. Wer dem begegnen will, sollte frühzeitig dokumentieren, wie sich trotz Rehabilitation im Alltag ein relevanter, wiederkehrender Hilfebedarf im Verkehr zeigt.
In Widerspruch und Klage gilt: gezielt beantragen, klar begründen, „G“ mitdenken und die Versorgungsmedizinischen Grundsätze auf die eigene Situation anlegen, nicht abstrakt.
Praxisleitfaden für den Antrag auf „B“ (auch im Bestand)
- Erstens: Ziel sauber definieren. Wenn „B“ das Ziel ist, prüfen, ob „G“ in Betracht kommt und mitbeantragen – insbesondere bei Orientierungs- oder Gleichgewichtsproblemen, die sich im Verkehrsraum manifestieren.
- Zweitens: Alltag protokollieren. Über mindestens vier Wochen Fahrten dokumentieren; nicht nur Problemfälle, sondern die gesamte Nutzung einschließlich Zeiten, Linien, Umstiege und konkreter Hilfestellungen.
- Drittens: Fachärztlich breit denken. Neben HNO gezielt Diagnostik anstoßen, wenn visuelle, vestibuläre, kognitive oder psychische Faktoren die Orientierung beeinträchtigen; Berichte ausdrücklich auf ÖPNV-Kontexte zuschneiden lassen.
- Viertens: Externe Nachweise bündeln. Uni-Nachteilsausgleiche, Assistenz-Einsätze, Begleit-Bescheinigungen, Fahrdienst-Dokumentation, ggf. Arbeitgeber-Hinweise – aber stets mit Bezug zur Mobilität.
- Fünftens: Argumentation fokussieren. Nicht die Diagnose in den Mittelpunkt stellen, sondern die regelmäßigen Funktionsgrenzen im Verkehr und deren Nicht-Kompensierbarkeit durch Technik oder Training.
- Sechstens: Fristen und Form wahren. Nachprüfungs-Schreiben nicht ignorieren, fristgerecht reagieren, Anhörung nutzen, zielgenaue Belege beifügen, und bei Bedarf frühzeitig Beratung einholen.
Relevantes Signal – kein Automatismus, sondern Belege, die den Alltag tragen
Das Münchener Urteil ist kein Paukenschlag, aber ein präzises Warnsignal: „B“ steht und fällt mit der nachgewiesenen Regelmäßigkeit der Hilfe im öffentlichen Verkehr. Wer GdB 100, „Gl“ und „H“ hat, kann an „B“ dennoch scheitern, wenn der Hilfebedarf nur situationsweise besteht oder „G“ gar nicht verfolgt wird.
Für Betroffene bedeutet das: Beweiskraft vor Schlagworten, Alltag vor Allgemeinplätzen, und eine strategische Antragstellung, die die Versorgungsmedizinischen Grundsätze konkret auf das persönliche Mobilitätsprofil anwendet. Richtig vorbereitet, mit belastbaren Protokollen und fachärztlich verkehrsbezogen begründeten Stellungnahmen, steigen die Chancen deutlich – in der Nachprüfung ebenso wie im Widerspruch und vor Gericht.




