Schwerbehinderung: Grad der Behinderung 40 plus 20 kann 50 sein

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Der Klรคger, ein 62-jรคhriger Mann, litt an einer chronischen Erkrankung, die zunรคchst mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 anerkannt war. Andere gesundheitliche Einschrรคnkungen, insbesondere ein Wirbelsรคulenschaden, blieben bei dieser ersten Einschรคtzung unberรผcksichtigt.

Der Kreis Steinfurt legte somit fรผr den Klรคger insgesamt einen GdB von 40 fest und bestรคtigte diese Entscheidung auch im Widerspruchsverfahren.

Allerdings hatte sich der Gesundheitszustand des Klรคgers zwischenzeitlich verschlechtert. Er strebte deshalb einen GdB von mindestens 50 an, um als schwerbehinderter Mensch anerkannt zu werden. Schwerbehindert ist, wer einen GdB von mindestens 50 vorweisen kann. Mit Hilfe des DGB Rechtsschutzes wandte sich der Klรคger an das Sozialgericht Mรผnster und erhob Klage.

Warum ist eine Erhรถhung des GdB so wichtig?

Ein GdB von 50 erรถffnet Menschen mit Behinderung besondere Rechte und Nachteilsausgleiche. Diese umfassen unter anderem:

  • Einen erweiterten Kรผndigungsschutz im Arbeitsverhรคltnis.
  • Besondere arbeitsrechtliche Schutzvorschriften (z. B. Zusatzurlaub).
  • Steuerliche Vergรผnstigungen und andere finanzielle Erleichterungen.

Der Sprung von einem GdB von 40 auf 50 ist allerdings rechtlich und medizinisch bedeutsam und wird hรคufig nur gewรคhrt, wenn eine klare Verschlechterung des Gesundheitszustands oder weitere Erkrankungen vorliegen, die das tรคgliche Leben erheblich beeintrรคchtigen.

Wie kam es zur gerichtlichen Auseinandersetzung?

Mit Blick auf die COPD und das weitere Leiden an der Wirbelsรคule war der Klรคger der Auffassung, dass sich sein Gesamt-GdB erhรถhen mรผsse. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Mรผnster beauftragte die Vorsitzende Richterin einen medizinischen Sachverstรคndigen (Orthopรคdie und Unfallchirurgie). Dieser untersuchte den Klรคger und kam im Mรคrz 2020 zum Ergebnis, dass trotz des hinzugekommenen Wirbelsรคulenleidens weiterhin ein GdB von 40 einzustufen sei.

รœblicherweise orientieren sich Gerichte stark an solchen Gutachten. Oftmals wird empfohlen, die Klage zurรผckzunehmen, wenn das Gutachten ungรผnstig ausfรคllt.

Anders jedoch in diesem Fall: Das Gericht lud trotzdem zu einer mรผndlichen Verhandlung im Mai 2020. Dort erรถrterten die Vorsitzende Richterin und die beiden ehrenamtlichen Richter die Gesamtsituation ausfรผhrlich und kamen schlieรŸlich zu einer abweichenden Beurteilung.

Warum folgte das Gericht nicht der Einschรคtzung des Sachverstรคndigen?

Obwohl die Gutachten fรผr die einzelnen Funktionsbeeintrรคchtigungen jeweils einen GdB von 40 (COPD) und 20 (Wirbelsรคulenschaden) nahelegten, steht es dem Gericht frei, eine eigene Gesamtbewertung vorzunehmen. Es ist nicht an die Empfehlungen der medizinischen Sachverstรคndigen gebunden. Vielmehr hat es die Aufgabe, die Beeintrรคchtigungen im Alltag und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe umfassend zu beurteilen.

Der entscheidende Punkt in diesem Verfahren lag darin, dass sich die beiden Erkrankungen โ€“ COPD und Wirbelsรคulenschaden โ€“ in vรถllig unterschiedlichen Bereichen des tรคglichen Lebens auswirken. COPD erschwert eine kรถrperliche Belastung und fรผhrt zu Atemnot.

Der Wirbelsรคulenschaden wiederum verursacht Schmerzen und Bewegungseinschrรคnkungen, die nicht unmittelbar auf die Lungenproblematik zurรผckzufรผhren sind.

Die sozialgerichtliche Kammer schloss aus dieser Unabhรคngigkeit der beiden Erkrankungen, dass der Klรคger im Alltag doppelt belastet ist. Die Summe der funktionellen Auswirkungen rechtfertige daher die Feststellung eines hรถheren Gesamt-GdB von 50.

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Bewertung einzelner Funktionsstรถrungen

Nach den einschlรคgigen versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen wird bei der Ermittlung eines Gesamt-GdB nicht einfach addiert. Eine Fรผhrungseinschrรคnkung โ€“ hier die Lungenerkrankung mit einem GdB von 40 โ€“ ist zunรคchst maรŸgeblich.

Weitere Funktionsbeeintrรคchtigungen werden geprรผft, ob sie das AusmaรŸ der Behinderung erheblich vergrรถรŸern.

Im Fall des Klรคgers kamen die Richterinnen und Richter zu dem Schluss, dass der Wirbelsรคulenschaden nicht lediglich eine untergeordnete Rolle neben der COPD spielt, sondern den Klรคger zusรคtzlich in seiner Lebensfรผhrung einschrรคnkt.

Zwar hatte der Gutachter auch einen GdB von 20 fรผr den Wirbelsรคulenschaden als Einzelerkrankung angesetzt, die gรคngige Meinung in Rechtsprechung und Literatur schwankt jedoch, ob sich hieraus eine GdB-Erhรถhung fรผr das Gesamtleiden ableiten lรคsst. Letztlich ist es eine Einzelfallentscheidung, die das Gericht anhand aller Umstรคnde selbst treffen muss.

Was bedeutet die Entscheidung des Sozialgerichts Mรผnster fรผr andere schwerbehinderte Betroffene?

Das rechtskrรคftige Urteil verdeutlicht, dass Gerichte nicht automatisch der Einschรคtzung gerichtlich bestellter Gutachter folgen mรผssen. In der Praxis kommt das zwar selten vor, ist aber immer dann mรถglich, wenn die Beweisaufnahme oder die Wรผrdigung aller Umstรคnde des Einzelfalls eine abweichende Beurteilung nahelegen. Fรผr Menschen, die auf eine Erhรถhung ihres GdB angewiesen sind, bedeutet dies konkret:

  • Ein ablehnendes Gutachten ist nicht zwangslรคufig das Ende des Verfahrens.
  • Eine sorgfรคltige Darlegung und Dokumentation aller gesundheitlichen Beeintrรคchtigungen kann ausschlaggebend dafรผr sein, die Richter*innen zu einer anderen Einschรคtzung zu bewegen.
  • Wer verschiedene, voneinander unabhรคngige Funktionsbeeintrรคchtigungen hat, sollte besonders darauf achten, dass sich diese im Alltag summieren und sich nicht gegenseitig โ€žwegkรผrzenโ€œ.

Wenn โ€ž40 plus 20โ€œ schlussendlich โ€ž50 seinโ€œ kann

Das Urteil des Sozialgerichts Mรผnster ist ein Paradebeispiel fรผr die sorgfรคltige Einzelfallprรผfung in sozialgerichtlichen Verfahren.

Obwohl ein Sachverstรคndiger vorgeschlagen hatte, bei insgesamt 40 zu bleiben, entschied das Gericht, die Wirbelsรคulenbeschwerden des Klรคgers als zusรคtzliche Beeintrรคchtigung zu werten und damit den Gesamt-GdB auf 50 anzuheben.

Fรผr den Klรคger bedeutet dies die Anerkennung einer Schwerbehinderung und damit erhebliche Erleichterungen und Rechte.

Das Verfahren zeigt, dass eine gute Prozessfรผhrung dazu fรผhren kรถnnen, dass sich Gerichte bei der Bildung des Gesamt-GdB auch gegen ein Gutachten stellen. Entscheidend ist die Gesamtbetrachtung des individuellen Zustands, sodass โ€ž40 plus 20โ€œ im Einzelfall tatsรคchlich zu โ€ž50โ€œ werden kann.