Ein Beschluss des Sozialgerichts Berlin (Az. S 127 AS 3296/24 ER) behandelte einen Fall, der in der Praxis immer wieder zu existenziellen Lücken führt: Eine leistungsberechtigte Person beantragt eine Rente wegen Erwerbsminderung, die Rentenversicherung versagt die Leistung wegen fehlender Mitwirkung – und das Jobcenter reagiert mit dem Entzug der Leistungen nach dem SGB II. Genau diese Kettenreaktion hat das Gericht im Eilverfahren als rechtswidrig bewertet.
Der Fall: Informationsbruch zwischen Rentenversicherung, Antragstellerin und Jobcenter
Nach der geschilderten Sachlage hatte die Betroffene selbst einen Rentenantrag gestellt. Die Rentenversicherung versagte die beantragte Leistung wegen fehlender Mitwirkung nach den Regeln des SGB I. Die Information darüber gelangte offenbar nicht zur Antragstellerin, sondern nur zum Jobcenter.
Dort wurde anschließend Bürgergeld entzogen, gestützt auf § 5 SGB II. Für die Betroffene bedeutete das, dass nicht nur der Rentenbezug ausblieb, sondern zugleich die laufende Existenzsicherung wegzubrechen drohte.
Was § 5 SGB II tatsächlich regelt – und was nicht
§ 5 SGB II beschreibt das Verhältnis des Bürgergeldes zu vorrangigen Leistungen anderer Träger. Das Jobcenter kann Leistungsberechtigte auffordern, vorrangige Ansprüche geltend zu machen. Wenn eine Person trotz Aufforderung keinen erforderlichen Antrag stellt, darf das Jobcenter den Antrag selbst stellen.
An diese Konstellation knüpft auch die Möglichkeit an, Leistungen vorübergehend zu versagen oder zu entziehen, wenn der andere Träger wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I bestandskräftig versagt oder entzogen hat.
Damit setzt die Vorschrift ein bestimmtes Vorgehen voraus: erst die Aufforderung, dann die unterbliebene Antragstellung, dann die ersatzweise Antragstellung durch das Jobcenter. Erst innerhalb dieses Rahmens kommt die leistungsrechtliche Konsequenz gegenüber dem Bürgergeld überhaupt in Betracht.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Berlin: Kein Entzug ohne Jobcenter-Antrag
Das Sozialgericht Berlin stellt im Beschluss darauf ab, dass im konkreten Fall gerade nicht das Jobcenter Antragsteller war. Die Betroffene hatte den Rentenantrag selbst gestellt. Damit sei – so die Kammer – der Anwendungsbereich der Entziehungs- oder Versagungsregelung nach § 5 Abs. 3 SGB II bereits nach dem Wortlaut nicht eröffnet.
Mit anderen Worten: Selbst wenn die Rentenversicherung wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I versagt, darf das Jobcenter daraus nicht automatisch den Schluss ziehen, nun dürfe es seinerseits Bürgergeld entziehen.
Der Beschluss ist im Eilverfahren ergangen. Das Gericht ordnet in solchen Verfahren eine vorläufige Regelung an, wenn sonst schwere Nachteile drohen. Inhaltlich ist die Aussage dennoch deutlich: Das Existenzminimum darf nicht über eine Vorschrift gekürzt werden, die für eine andere Verfahrenslage geschaffen wurde.
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Bescheid prüfenWarum die Unterscheidung zwischen „eigener Antrag“ und „Jobcenter-Antrag“ so viel ausmacht
Die Differenz wirkt auf den ersten Blick technisch, hat aber erhebliche Folgen. § 5 Abs. 3 SGB II ist kein allgemeines Instrument, um Druck zur Mitwirkung bei anderen Leistungsträgern aufzubauen. Er ist an eine vorherige Verfahrenssteuerung durch das Jobcenter gekoppelt. Fehlt diese, fehlt die Grundlage, um Bürgergeld wegen einer Mitwirkungsversagung beim anderen Träger zu stoppen.
Das ist auch deshalb wichtig, weil Versagungen nach § 66 SGB I häufig aus formalen Gründen erfolgen, etwa wenn Unterlagen fehlen, Fristen versäumt werden oder Anfragen unbeantwortet bleiben. Die Rechtsfolge ist beim vorrangigen Träger gravierend genug. Würde zusätzlich noch das Bürgergeld entzogen, entstünde schnell ein vollständiger Leistungsabriss – gerade in Situationen, in denen Betroffene gesundheitlich oder organisatorisch ohnehin überfordert sind.
Spannungsfeld Praxis: Verwaltungsvorgaben und gerichtliche Grenzen
In der Verwaltungspraxis wird § 5 Abs. 3 SGB II teils weiter verstanden, als es einzelne Gerichte akzeptieren. Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit beschreiben die Entziehungsmöglichkeit bei fehlender Mitwirkung gegenüber dem vorrangigen Träger und behandeln dabei auch die Frage, wer den Antrag gestellt hat, anders als das Sozialgericht Berlin es im Beschluss tut.
Solche Weisungen sind interne Vorgaben, ersetzen aber keine gerichtliche Auslegung. Wenn Gerichte die Norm enger lesen, ist das für Jobcenter ein Hinweis, dass ein automatisiertes Vorgehen rechtlich riskant ist.
Was Betroffene aus dem Beschluss ableiten können
Der Berliner Beschluss macht deutlich, dass ein Rentenverfahren, das wegen fehlender Mitwirkung scheitert, nicht ohne Weiteres zum Stopp des Bürgergeldes führen darf. Entscheidend sind die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen des § 5 SGB II, vor allem die Frage, ob das Jobcenter überhaupt in die Antragstellung eingebunden war und ob die gesetzlichen Schritte eingehalten wurden.
Für Betroffene ist außerdem wichtig, dass Eilverfahren vor den Sozialgerichten ein wirksames Mittel sein können, wenn der Lebensunterhalt akut gefährdet ist und die Rechtsgrundlage zweifelhaft erscheint.
Ein Signal für sorgfältigere Verfahren
Der Beschluss des SG Berlin ist kein Freibrief, Mitwirkungspflichten bei der Rentenversicherung zu ignorieren. Er zeigt aber, dass Leistungsentzüge beim Bürgergeld eine tragfähige gesetzliche Grundlage und ein korrektes Verfahren voraussetzen.
Wenn Behördenkommunikation stockt und Informationen nur einseitig fließen, dürfen die Folgen nicht bei den Leistungsberechtigten „durchschlagen“. Gerade weil es um laufende Existenzsicherung geht, verlangt das Recht eine saubere Trennung der Zuständigkeiten – und eine ebenso saubere Anwendung der Eingriffsbefugnisse.
Quelle
Beschluss SG Berlin AZ: S 127 AS 3296/24 ER (zitiert nach der im Sachverhalt wiedergegebenen Passage sowie nach dokumentierenden Veröffentlichungen)




