Eine vorgezogene Altersrente fรผr Schwerbehinderte blockiert laut ยง 34 SGB VI dauerhaft den Zugang zur meist hรถheren Erwerbsminderungsrente. Das Urteil L 10 R 717/24 des LSG Baden-Wรผrttemberg offenbart ein riskantes Loch im sozialen Netz.
โDer Wechsel von einer Altersrente in eine andere Rente ist ausgeschlossen โฆโ
LSG Baden-Wรผrttemberg, Urteil L 10 R 717/24
Inhaltsverzeichnis
Fallbeispiel: Vorschneller Rentenstart mit Langzeitfolgen
Ein 1961 geborener Versicherter mit einem Grad der Behinderung von fรผnfzig Prozent nahm auf Empfehlung des Jobcenters zum 1. Juli 2023 die vorgezogene Altersrente fรผr Schwerbehinderte in Anspruch. Wenige Monate spรคter stellten รrztinnen eine volle Erwerbsminderung fest.
Der Versuch, in die finanziell gรผnstigere EM-Rente zu wechseln, scheiterte vor Gericht. Grundlage des ablehnenden Urteils: ยง 34 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI โ das Wechselverbot, sobald bereits Altersrente flieรt.
Inhalt und Tragweite des Urteils L 10 R 717/24
Der Senat entschied, dass der erste Auszahlungsmonat der Altersrente den Rentenstatus unwiderruflich festlegt. Eine spรคter eintretende Verschlechterung der Gesundheit beeinflusst den Anspruch nicht mehr, weil die EM-Rente einen spรคteren Rentenbeginn hรคtte. Damit bleiben dauerhafte Abschlรคge bestehen.
Weder lange Versicherungszeiten noch eine hohe Zahl eingezahlter Beitrรคge รถffnen einen Ausweg. Das Urteil bekrรคftigt frรผhere Rechtsprechung und bestรคtigt die Systemlogik des Gesetzgebers, Rentenwechsel mรถglichst auszuschlieรen.
ยง 34 SGB VI in Klartext
Die Norm soll โRenten-Hoppingโ verhindern. Vereinfacht heiรt das: Sobald Altersrente flieรt, ist jeder spรคtere Antrag auf EM-Rente aussichtslos, falls deren Beginn nach dem Start der Altersrente liegen wรผrde. Entscheidend ist der Zahlungsstichtag, nicht das Datum des Bescheids. Eine Hรคrtefallregelung existiert nicht. Ein Altersrentenantrag lรคsst sich jedoch zurรผcknehmen, solange noch kein Geld ausgezahlt wurde โ diese kurze Phase bildet das einzige Zeitfenster fรผr taktische รnderungen.
Finanzielle Auswirkungen โ ein Rechenbeispiel
Persรถnlicher Rentenwert: 1 200 โฌ.
Rentenart | Gesetzlicher Abschlag | Monatliche Auszahlung |
Altersrente fรผr Schwerbehinderte (10,8 %) | โ129 โฌ | 1 071 โฌ |
Erwerbsminderungsrente (keine Abschlรคge) | 0 โฌ | 1 200 โฌ |
Die Differenz von 129 โฌ summiert sich auf rund 1.548 โฌ im Jahr und etwa 30.000 โฌ in zwanzig Jahren โ ohne inflationsbedingte Rentenanpassungen.
Checkpunkte zur Vermeidung des Kostenfalls
Vor jedem Rentenantrag empfiehlt sich eine umfassende Bestandsaufnahme des Gesundheitszustands durch Fachรคrztinnen oder einen Reha-Bericht; ein laufender EM-Antrag verschlieรt die Altersrente nicht, wรคhrend die umgekehrte Reihenfolge den Zugang zur EM-Rente dauerhaft sperrt; ยง 12a SGB II begrรผndet das Recht, einen vom Jobcenter vorgeschlagenen Rentenantrag abzulehnen, wenn nachhaltige finanzielle Nachteile drohen;
Widersprรผche gegen Bescheide mรผssen innerhalb eines Monats eingelegt werden, wรคhrend ยง 44 SGB X einen bis zu vierjรคhrigen รberprรผfungszeitraum ermรถglicht; alle behรถrdlichen Aussagen sollten schriftlich dokumentiert werden, da telefonische Auskรผnfte keine rechtssichere Wirkung entfalten.
Beratungs- und Anlaufstellen
- Deutsche Rentenversicherung (DRV) โ kostenlose Beratungstage und Online-Termine
- Sozialverbรคnde VdK & SoVD โ Antragsprรผfung, Rechtsbeistand, Prozessvertretung
- DGB-Rechtsschutz โ Unterstรผtzung fรผr Gewerkschaftsmitglieder
- Fachanwรคltinnen und Fachanwรคlte fรผr Sozialrecht
- Reha-Servicestellen โ bundesweite Koordination medizinischer Gutachten und Antrรคge
Politische Bewertung und Reformbedarf
Das Wechselverbot benachteiligt primรคr Bรผrgergeldbezieher mit gesundheitlichen Einschrรคnkungen sowie schwerbehinderte Personen, die dem รถkonomischen Druck von Jobcentern nachgeben. Kurzfristig sinken die Ausgaben in Grundsicherung und Rentenkasse; langfristig steigt jedoch das Armutsrisiko im Ruhestand. Sozialverbรคnde sprechen von einer โdoppelten Schleife der Benachteiligungโ.
Erst verringern Abschlรคge die Altersrente, dann verwehrt das Gesetz den Zugang zur hรถheren EM-Rente. Gefordert werden die Abschaffung prozentualer Kรผrzungen bei Schwerbehinderten, eine รffnungsklausel fรผr nachtrรคgliche Gesundheitsverschlechterungen und eine verpflichtende, unabhรคngige Beratung vor jeder Empfehlung zur vorgezogenen Altersrente.
Mehrere Eingaben an den Petitionsausschuss des Bundestags illustrieren, wie gravierend das Problem bereits wirkt. Trotzdem blieb die Bundesregierung bislang untรคtig. Mit dem Urteil L 10 R 717/24 wรคchst der Druck, ยง 34 SGB VI auf den Prรผfstand zu stellen. Eine sozialere Ausgestaltung wรผrde nicht nur Hรคrtefรคlle verhindern, sondern auch das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung stรคrken.
Ohne Reform besteht das Risiko, dass betroffene Gruppen dauerhaft in die Armutsfalle geraten โ eine Entwicklung, die dem Ziel der Alterssicherung diametral entgegensteht.