Mit Beschluss (Az. 1 BvR 2076/23) hat das Bundesverfassungsgericht eine Weichenstellung bestรคtigt, die viele Arbeitnehmer kurz vor dem Ruhestand unmittelbar betrifft.
Karlsruhe nahm eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an und stรคrkte damit die Linie der Sozialgerichtsbarkeit: Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld I innerhalb der letzten zwei Jahre vor Rentenbeginn zรคhlen nicht zur 45-jรคhrigen Wartezeit fรผr die abschlagsfreie Altersrente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte.
ยง 51 Abs. 3a SGB VI ist demnach verfassungsgemรคร, die Deutsche Rentenversicherung handelt auf rechtssicherer Grundlage.
Hinter dieser rechtlichen Formel steckt eine klare Botschaft: Wer die โRente mit 63โ (korrekt: die abschlagsfreie Rente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte) erreichen will, darf die letzten beiden Jahre vor dem Rentenstart nicht durch ALG-I-Zeiten โauffรผllenโ.
Der Fall: Ein langer Versicherungsverlauf โ und doch ein Dรคmpfer
Ausgangspunkt des Verfahrens war der Rentenantrag eines 1951 geborenen Arbeitnehmers, der nach Vollendung des 63. Lebensjahres die abschlagsfreie Rente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte beantragte.
Er hatte รผber vier Jahrzehnte Versicherungszeiten gesammelt, bezog jedoch im Vorfeld rund ein Jahr Arbeitslosengeld I. Die Deutsche Rentenversicherung lehnte den Antrag ab: Die 45-Jahres-Wartezeit sei wegen des gesetzlich geregelten Ausschlusses nicht erfรผllt.
Stattdessen bewilligte sie lediglich die Altersrente fรผr langjรคhrig Versicherte โ mit einem Abschlag von 8,7 Prozent. Der Versicherte klagte sich durch die Instanzen und scheiterte schlieรlich mit seiner Verfassungsbeschwerde.
Prozessgeschichte: Vom Sozialgericht nach Karlsruhe
Die Beschwerde richtete sich gegen die ablehnenden Entscheidungen der Sozialgerichte โ vom Sozialgericht รผber das Landessozialgericht bis zum Bundessozialgericht โ sowie mittelbar gegen die einschlรคgige Norm des ยง 51 Abs. 3a SGB VI.
Der Beschwerdefรผhrer sah den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und den Eigentumsschutz seiner Rentenanwartschaften (Art. 14 Abs. 1 GG) verletzt. Karlsruhe nahm die Beschwerde nicht an.
Teilweise fehlte es an einer hinreichend verfassungsrechtlichen Begrรผndung, im รbrigen verwiesen die Richter auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Sozialrecht.
Diese Konstellation ist sozialrechtlich bedeutsam: Auch ohne inhaltliche Hauptsacheentscheidung entfaltet ein Nichtannahmebeschluss normative Signalwirkung, weil er die bisherige Rechtsanwendung bestรคtigt.
Was ยง 51 Abs. 3a SGB VI regelt
Die Vorschrift bestimmt, dass Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld I innerhalb der letzten zwei Jahre vor Rentenbeginn grundsรคtzlich nicht auf die 45-jรคhrige Wartezeit angerechnet werden. Der Gesetzgeber wollte verhindern, dass Beschรคftigte kurz vor dem Ruhestand gezielt in die Arbeitslosigkeit โgeschicktโ werden, um fehlende Monate zu รผberbrรผcken.
Dieses Missbrauchsverhinderungsziel trรคgt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Ungleichbehandlung. Entscheidend ist der Zeitpunkt: Liegen ALG-I-Zeiten auรerhalb des zweijรคhrigen Korridors, kรถnnen sie zur 45-Jahres-Wartezeit beitragen; innerhalb des Korridors eben nicht.
Eng umrissene Ausnahmen: Insolvenz oder Geschรคftsaufgabe
Das Recht kennt zwei Rรผckausnahmen, die die Hรคrte des Grundsatzes abfedern sollen. Anzurechnen sind ALG-I-Zeiten in den letzten zwei Jahren dann, wenn der Arbeitgeber insolvent wird oder seine Geschรคftstรคtigkeit vollstรคndig aufgibt.
Beide Tatbestรคnde lassen sich klar abgrenzen und verwaltungspraktisch prรผfen. Genau diese รberprรผfbarkeit war fรผr Karlsruhe ein zentrales Argument: Der Ausschluss schรผtzt die Solidargemeinschaft vor strategischen Frรผhverrentungen, ohne diejenigen zu benachteiligen, die unverschuldet ihren Arbeitsplatz verlieren.
Warum die Verfassungsrรผgen scheiterten
Der Gleichheitssatz verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nach Lesart des Gerichts sind Personen, die wegen betrieblicher Entwicklungen zwangsweise arbeitslos werden, nicht mit jenen vergleichbar, bei denen Arbeitslosigkeit in zeitlicher Nรคhe zum Rentenbeginn planbar oder beeinflussbar war.
Der Eigentumsschutz greift ebenfalls nicht durch: Rentenansprรผche und Anwartschaften sind gesetzlich ausgestaltet. Der Gesetzgeber darf im Rahmen legitimer sozialpolitischer Ziele Bedingungen definieren, unter denen Anwartschaften entstehen oder entfallen. Dass solche Regeln in Einzelfรคllen zu harten Ergebnissen fรผhren, macht sie verfassungsrechtlich nicht per se unzulรคssig.
Konsequenzen fรผr die Praxis: Planung wird zur Pflicht
Fรผr Versicherte ergibt sich aus dem Beschluss eine klare Handlungsmaxime. Wer die abschlagsfreie Rente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte anstrebt, muss die letzten zwei Jahre vor dem gewรผnschten Rentenbeginn besonders im Blick behalten. Arbeitslosengeld I in diesem Zeitraum schlieรt die Anrechnung fรผr die 45-Jahres-Wartezeit grundsรคtzlich aus.
Das gilt auch dann, wenn daneben freiwillige Beitrรคge gezahlt werden: Sie helfen in dieser Konstellation nicht weiter, wenn gleichzeitig Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit vorliegen. In der Folge kann es dazu kommen, dass trotz insgesamt langer Erwerbsbiografie nur die Altersrente fรผr langjรคhrig Versicherte mit spรผrbaren Abschlรคgen in Betracht kommt.
Wie die 45 Jahre dennoch gelingen kรถnnen
Die wichtigste Stellschraube ist Beschรคftigung mit Versicherungspflicht in den kritischen 24 Monaten vor Rentenbeginn. Ein versicherungspflichtiger Minijob kann fehlende Monate liefern, wenn er rechtzeitig und durchgรคngig ausgeรผbt wird. Freiwillige Beitrรคge sind ein weiteres Instrument, entfalten ihre Wirkung in Bezug auf die 45-Jahres-Wartezeit jedoch vor allem auรerhalb von Zeitrรคumen, die zeitgleich von Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit geprรคgt sind. S
innvoll ist auรerdem der Blick auf andere beitragsrechtlich relevante Zeiten, die hรคufig รผbersehen werden. Kindererziehungszeiten, sofern als Pflichtbeitragszeiten bewertet, sowie Zeiten hรคuslicher Pflege mit Beitragszahlung durch die Pflegekasse kรถnnen die Wartezeit ebenfalls voranbringen. Maรgeblich ist stets die konkrete Einordnung als Pflichtbeitragszeit und die zeitliche Lage im Verhรคltnis zum geplanten Rentenstart.
Was Betroffene jetzt prรผfen sollten
Betroffene sollten ihre Versicherungsverlรคufe frรผhzeitig und kleinteilig prรผfen lassen. Entscheidend sind nicht nur die Summen, sondern die Zuordnung der Monate zu den richtigen Rechtskategorien.
Ein Beratungsgesprรคch โ etwa bei der Deutschen Rentenversicherung oder einer zugelassenen Rentenberatungsstelle โ hilft, Lรผcken oder Fehlklassifikationen zu erkennen.
Ebenso wichtig ist ein realistischer Zeitplan: Wer heute noch einige Jahre entfernt ist, kann durch vorausschauende Beschรคftigung, Pflegeengagement oder rechtzeitig platzierte freiwillige Beitrรคge die Weichen stellen.
Wer sich bereits im zweijรคhrigen Korridor befindet, muss wissen, dass ALG-I-Bezug die Anrechnung sperrt und alternative, versicherungspflichtige Beschรคftigung den sichersten Weg zur Zielmarke darstellt.
Einordnung: Missbrauchsschutz versus Einzelfallgerechtigkeit
Die Entscheidung bestรคtigt ein Spannungsfeld, das das Rentenrecht traditionell kennt. Missbrauchsschutz erfordert klare, pauschalierende Regeln; Einzelfallgerechtigkeit verlangt flexible Korrekturen. ยง 51 Abs. 3a SGB VI versucht den Ausgleich รผber eng gefasste Ausnahmen.
Dass dabei Hรคrten verbleiben, ist verfassungsrechtlich hinzunehmen, sozialpolitisch aber erklรคrungsbedรผrftig. Fรผr die Betroffenen bedeutet das: Recht bekommen ist hier vor allem eine Frage rechtzeitiger Information und Planung, weniger eine Frage gerichtlicher Korrekturen in letzter Minute.




