Rente-Paukenschlag: Rentner darf von der PKV in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln

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Das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg hat mit Urteil vom 25. Mรคrz 2025 (Az. L 11 KR 169/25) eine Entscheidung gefรคllt, die den bislang als nahezu unรผberwindbar geltenden Graben zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung im Rentenalter aufreiรŸt.

Ein รผber achtzigjรคhriger Mann, der seit 1965 in der privaten Krankenversicherung (PKV) versichert war, erhรคlt allein kraft seiner Witwerrente Zugang zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR).

Das Gericht stellt damit nicht nur die jahrelange Verwaltungspraxis vieler Krankenkassen infrage, sondern korrigiert zugleich die einflussreichen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes, deren Auslegung der einschlรคgigen Norm des ยง 6 Abs. 3a SGB V in der Vergangenheit oft als verbindlich angesehen wurde.

Das Urteil kippt diese Deutungshoheit und erรถffnet tausenden hochbetagten Privatversicherten einen realistischen Weg zurรผck in die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der konkrete Fall

Der Klรคger, Jahrgang 1940, war mehr als fรผnf Jahrzehnte privat versichert und fรผhrte bis 2016 eine selbststรคndige Tรคtigkeit. Seine Ehefrau, zuletzt in der gesetzlichen Krankenkasse pflichtversichert, verstarb am 11. Dezember 2023. Drei Tage spรคter beantragte der Witwer die groรŸe Hinterbliebenenrente.

Die zustรคndige Krankenkasse lehnte daraufhin die Aufnahme in die KVdR ab und berief sich auf ยง 6 Abs. 3a SGB V: Wer nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werde, bleibe versicherungsfrei, wenn in den fรผnf Jahren zuvor keine gesetzliche Versicherung bestanden habe.

Der Rentner klagte โ€“ mit Erfolg. Das Sozialgericht Stuttgart gab ihm am 12. Dezember 2024 Recht; die Berufung der Krankenkasse wies das LSG zurรผck.

Streitpunkt ยง 6 Abs. 3a SGB V

Der Paragraf regelt, dass Personen รผber 55 Jahren trotz eines neuen Versicherungspflichttatbestands versicherungsfrei bleiben kรถnnen, wenn sie in den letzten fรผnf Jahren kein GKV-Mitglied waren und wรคhrend mindestens der Hรคlfte dieses Zeitraums rechtlich versicherungsfrei, befreiungsberechtigt oder wegen hauptberuflicher Selbststรคndigkeit nicht versicherungspflichtig waren.

Die Krankenkassen orientierten sich bisher an einem Gemeinsamen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes und der Deutschen Rentenversicherung vom 24. Oktober 2019.

Dieses Schreiben legt den relevanten Fรผnfjahreszeitraum bei bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Personen nicht auf die fรผnf Jahre vor Eintritt der Versicherungspflicht, sondern auf die fรผnf Jahre vor dem Ausscheiden aus der Erwerbstรคtigkeit โ€“ im hier entschiedenen Fall also auf die Jahre bis 2016.

Das LSG hielt diese Auslegung fรผr gesetzes- und wortlautwidrig. Fรผr den Fรผnfjahreszeitraum mรผsse unmittelbar an den Zeitpunkt des neuen Versicherungspflichttatbestands angeknรผpft werden, hier an den Antrag auf Witwerrente vom 14. Dezember 2023.

Entscheidend sei, dass der Rentner in diesen fรผnf Jahren zwar privatversichert war, aber in keiner Weise rechtlich versicherungsfrei im Sinne der ยงยง 6โ€“8 SGB V gewesen sei. Damit fehle eine der beiden kumulativen Voraussetzungen des ยง 6 Abs. 3a SGB V, sodass Versicherungsfreiheit nicht eintrete.

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Abgeleitete Vorversicherungszeiten und Solidarbezug

Als weiterer Dreh- und Angelpunkt erwies sich ยง 5 Abs. 2 Satz 2 SGB V. Diese Vorschrift erlaubt es Hinterbliebenen, die Vorversicherungszeiten des verstorbenen Ehepartners auf die strenge Neun-Zehntel-Regel der KVdR anzurechnen.

Das LSG bestรคtigte, dass diese Anrechnung auch dann greift, wenn der Hinterbliebene bislang vollstรคndig auรŸerhalb der GKV versichert war. Die Solidargemeinschaft werde nicht รผber Gebรผhr belastet, weil die gesetzlich versicherte Ehefrau in den maรŸgeblichen Zeiten Beitrรคge geleistet habe.

Deutliche Kritik an der Verwaltungspraxis

In selten offenem Ton rรผgte das Gericht die Rundschreibenpraxis des GKV-Spitzenverbandes. Interne Auslegungshilfen kรถnnten den Gesetzeswortlaut nicht konterkarieren.

Sie dรผrften keine zusรคtzlichen Hรผrden errichten, die das Parlament nicht ausdrรผcklich normiert habe.

Das LSG lehnte eine โ€žverdeckte Doppelprรผfungโ€œ โ€“ erst fรผnf Jahre vor dem Erwerbsausstieg, dann noch einmal fรผnf Jahre vor dem Rentenantrag โ€“ als unvereinbar mit Sinn und Zweck des Gesetzes ab.

Damit stellt das Urteil die Autoritรคt des Rundschreibens an zentraler Stelle infrage und verpflichtet Krankenkassen, in kรผnftigen Fรคllen streng am Gesetzwortlaut zu prรผfen.

Was das Urteil fรผr privatversicherte Rentner bedeutet

Knapp 8,7 Millionen Menschen sind in Deutschland privat krankenversichert; unter ihnen wรคchst der Anteil ร„lterer, deren Beitrรคge deutlich steigen. Fachportale und Verbraucherschรผtzer melden fรผr einzelne Tarife Beitragsanhebungen von รผber zehn Prozent zum Jahreswechsel 2025, was viele Rentner an die finanzielle Belastungsgrenze bringt.

Gleichzeitig verbleiben Betroffene, die ihre Prรคmien nicht mehr aufbringen kรถnnen, hรคufig im letzten Rettungsanker des Notlagentarifs โ€“ mit stark eingeschrรคnkten Leistungen.

Fรผr diese Gruppe erรถffnet das Urteil eine rechtliche Tรผr: Wer eine Witwen- oder Witwerrente, eine neue Beschรคftigung oder einen anderen Versicherungspflichttatbestand begrรผndet, kann unter Umstรคnden trotz hohen Alters in die KVdR wechseln, sofern in den fรผnf Jahren vor dem Stichtag keine rechtliche Versicherungsfreiheit bestand.

Anders als manche Internet-Anbieter suggerieren, sind keine Konstruktionen mit Schein-Arbeitsvertrรคgen oder Auslandsaufenthalten erforderlich.

Entscheidend ist allein, ob die beiden tatbestandlichen Voraussetzungen des ยง 6 Abs. 3a SGB V erfรผllt sind โ€“ und die vorliegende Entscheidung zeigt, dass dies hรคufig nicht der Fall ist.

Reaktionen auf das Urteil

Bei Interessenverbรคnden lรถste das Urteil gemischte Reaktionen aus. Patienten- und Seniorenvertreter begrรผรŸen den Richterspruch als รผberfรคlliges Korrektiv, das die finanzielle Abstiegsangst vieler รคlterer Privatversicherter lindert.

In der privaten Versicherungswirtschaft hingegen ist die Sorge spรผrbar, eine liberalere Wechselpraxis kรถnnte das ohnehin von steigenden Leistungsausgaben belastete Kollektiv junger PKV-Beitragszahler zusรคtzlich belasten.

Von Seiten des GKV-Spitzenverbandes lag bis Redaktionsschluss keine fรถrmliche Stellungnahme vor; in internen Kreisen betont man jedoch, die Revision vor dem Bundessozialgericht mit Nachdruck verfolgen zu wollen.

Gesundheitspolitisch fรคllt die Entscheidung in eine Zeit, da die Finanzierung beider Systeme unter Druck steht. Die GKV kรคmpft mit wachsenden Ausgaben und sieht sich in der Pflicht, ihre Solidargemeinschaft vor โ€žRรผckkehrernโ€œ zu schรผtzen, die jahrzehntelang keine Beitrรคge entrichtet haben. Zugleich hat die Politik bislang keine schlรผssige Antwort darauf gefunden, wie privatversicherte Bestandsrentner vor existenzbedrohenden Beitragssteigerungen bewahrt werden kรถnnen.

Revision zum Bundessozialgericht zugelassen

Das Landessozialgericht hat wegen grundsรคtzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) ausdrรผcklich zugelassen. Wird das BSG die Sicht der Stuttgarter Richter bestรคtigen, stรผnde eine bundesweit einheitliche Linie in Aussicht, die den gesetzlichen Wortlaut รผber administrative Interpretationen stellt.

Sollte das hรถchste Sozialgericht hingegen der Verwaltungspraxis folgen, droht eine erneute Verengung des Wechselkorridors.

Bis zur Entscheidung, die frรผhestens 2026 zu erwarten ist, mรผssen Krankenkassen in laufenden Verfahren den KVdR-Beitritt jedoch vorlรคufig gewรคhren, sofern kein zwingender Ausschlusstatbestand vorliegt; einen Aufschub allein unter Verweis auf die anhรคngige Revision lรคsst die aktuelle Rechtslage nicht zu.

Fazit

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Wรผrttemberg markiert einen Wendepunkt im Verhรคltnis von Gesetzeswortlaut und Verwaltungspraxis im Krankenversicherungsrecht.

Es stรคrkt das Prinzip, dass interne Rundschreiben der gesetzlichen Krankenkassen kein Gesetz ersetzen dรผrfen, und gibt hochbetagten Privatversicherten eine realistische Option, legal in die gesetzliche Krankenversicherung zurรผckzukehren.

Ob diese ร–ffnung Bestand hat, entscheidet letztlich das Bundessozialgericht. Schon jetzt aber zwingt das Urteil Krankenkassen, den Paragrafen ยง 6 Abs. 3a SGB V neu zu lesen โ€“ zugunsten derjenigen, die im Alter nicht mehr in der Lage sind, private Beitrรคge zu schultern, und zugleich eine familiรคre oder berufliche Brรผcke in die Solidargemeinschaft besitzen.