Viele Menschen, die ihre Arbeitsleistung nicht mehr erbringen können, beantragen vergeblich die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung.
In diesem Fall lief es jedoch umgekehrt: Die Rentenversicherung wollte den Betroffenen in die Rente drängen – er selbst wollte stattdessen eine medizinische Rehabilitation.
Urteilsdaten: Landessozialgericht Hessen, Az.: L 5 R 217/20.
Inhaltsverzeichnis
Ärztin sieht volle Erwerbsminderung
Der Versicherte stellte einen Antrag auf Gewährung einer medizinischen Rehabilitation bei der Deutschen Rentenversicherung. Eine Gutachterin erkannte eine volle Erwerbsminderung, sah aber keine relevante Verbesserung durch eine Reha.
Die Rentenversicherung lehnte den Antrag ab. Der Betroffene klagte – doch das Landessozialgericht Hessen entschied letztlich zugunsten der Versicherung.
Bundeswehr, dann Krankengeld
Der Betroffene arbeitete zivil beschäftigt bei der Bundeswehr, erkrankte und bezog zunächst Krankengeld. Nach dessen Auslaufen beantragte er Arbeitslosengeld bei der Bundesagentur für Arbeit.
Arbeitsagentur fordert Reha-Maßnahme
Ein Gutachten erkannte eine schwere depressive Episode sowie erhebliche Probleme bei der Bewältigung des Alltags. Zudem könne er seit über sechs Monaten weniger als drei Stunden pro Tag auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.
Die Agentur für Arbeit forderte den Betroffenen daher nach § 145 SGB III auf, eine medizinische Rehabilitation zu beantragen. Der Antrag ging an die hierfür zuständige Rentenversicherung.
Rentenversicherung sieht keinen Sinn in einer Reha-Maßnahme
Der Betroffene legte einen ärztlichen Befundbericht vor. Auch die Ärztin der Untersuchungsstelle der Rentenversicherung sah eine seit mehr als sechs Monaten nachgewiesene Leistungsminderung mit einem täglichen Leistungsvermögen von unter drei Stunden.
Eine medizinische Reha sei aktuell jedoch nicht geeignet, diese Einschränkung in absehbarer Zeit zu beheben. Bei länger andauernder fachpsychiatrischer Behandlung sei eine Besserung grundsätzlich denkbar, kurzfristig aber nicht wahrscheinlich.
Die Rentenversicherung lehnte den Antrag auf Rehabilitation ab. Eine Reha könne die Erwerbsfähigkeit nicht wesentlich bessern oder wiederherstellen und auch keine wesentliche Verschlechterung abwenden.
Zugleich prüfte die DRV, ob der Reha-Antrag nach § 116 Abs. 2 SGB VI in einen Rentenantrag umzudeuten sei.
Erwerbsgeminderter geht vor das Sozialgericht
Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht Marburg. Er argumentierte mit dem Grundsatz „Reha vor Rente“, den die Rentenkasse selbst vertrete. Er wolle keine Rente, sondern durch eine Rehabilitation seine Arbeitsfähigkeit zurückgewinnen.
Man wolle ihn gegen seinen Willen in die Erwerbsminderungsrente drängen. Eine Reha sei ihm auch deshalb zu gewähren, weil er eine solche Maßnahme bislang noch nie in Anspruch genommen habe.
Sozialgericht weist die Klage ab
Das Sozialgericht hielt die Klage für unbegründet. Der Kläger erfülle nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine medizinische Rehabilitation, da diese nach der Prognose seine Erwerbsfähigkeit voraussichtlich nicht bessern würde. In dieser Konstellation sei die Rentenversicherung berechtigt, den Reha-Antrag in einen Rentenantrag umzudeuten.
Berufung bleibt erfolglos
Der Betroffene legte Berufung zum Landessozialgericht Hessen ein – ohne Erfolg. Er verwies darauf, dass Agentur für Arbeit und Rentenversicherung alles tun müssten, um ihn wieder in Arbeit zu bringen. Sein Arbeitsverhältnis bei der Bundeswehr sei zudem ungekündigt.
Krank gemacht habe ihn nicht die Arbeit, sondern das Mobbing eines Kollegen. Ohne Rehabilitation könne sich seine Gesundheit nicht bessern, mit Reha sei hingegen eine Stabilisierung möglich.
Rente ist teurer als Reha?
Der Kläger betonte, er wolle noch nicht in Rente gehen; außerdem koste die Rente die Kasse mehr als eine Reha. Diesen Einwand ließ das Gericht jedoch nicht gelten. Für die Entscheidung kommt es nicht auf Kostenüberlegungen an, sondern allein auf die medizinisch-juristische Prognose der Erfolgsaussichten.
Reha-Erfolg muss wahrscheinlich sein – „Reha vor Rente“ ist kein Automatismus
Die Richterinnen und Richter am Landessozialgericht stellten klar: Der Grundsatz „Reha vor Rente“ gilt nicht schrankenlos. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI in Verbindung mit § 15 SGB VI übernimmt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nur, wenn deren Erfolg wahrscheinlich ist – also wenn eine wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten steht oder eine drohende Verschlechterung abgewendet werden kann.
Im vorliegenden Fall sei es wenig wahrscheinlich, dass die Reha die Erwerbsfähigkeit des Klägers verbessern würde. Damit seien die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.
Folgerichtig durfte die DRV den Reha-Antrag nach § 116 Abs. 2 SGB VI als Rentenantrag umdeuten. Dass die Agentur für Arbeit die Beantragung einer Reha nach § 145 SGB III verlangt hatte, ändert daran nichts:
Die Aufforderung dient der Klärung der Erwerbsfähigkeit, begründet aber keinen Anspruch auf eine Reha gegen eine negative Erfolgsprognose.