Nachträglich festgestellte Erwerbsminderung – Das Jobcenter zahlte nicht

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Das Landesgericht Sachsen-Anhalt entschied, dass auch bei einer rückwirkenden Feststellung der vollen Erwerbsminderung der Landkreis als Sozialhilfeträger die Grundsicherung in vollem Umfang hätte zahlen müssen. Deshalb verurteilte es die Behörde dazu, die strittigen Kosten zu erstatten (L 5 AS 264/20).

Was war der generelle Streitpunkt?

Die Klägerinnen beanspruchten höhere Grundsicherungsleistungen. Unklar blieb auch, ob es um Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Bürgergeld) oder dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ging.

Worauf bezieht sich das Gericht?<7h2>
Von folgenden Leitlinien ging das Gericht aus: “Der Beiladung des Landkreises als Sozialhilfeträger steht erstens nicht entgegen, dass dieser als zugelassener kommunaler Träger zugleich Rechtsträger des beklagten Jobcenters ist.

Steht zweitens aufgrund einer rückwirkenden Feststellung der vollen Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger fest, dass der Sozialhilfeträger für die Grundsicherungsleistungen vollumfänglich zuständig gewesen wäre, so ist dieser der zuständige Verpflichtete eines höheren als des bereits gewährten Anspruchs.

Der Sozialhilfeträger muss sich drittens insoweit die Antragstellung beim Jobcenter und dessen “Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit zurechnen lassen.”

Zum Tatbestand

Die Klägerinnen hatten eine Wohnung, die mit Heizung 366,91 Euro pro Monat kostete. Das Jobcenter forderte beide auf, die Kosten zu reduzieren, da die Bruttokaltmiete unangemessen hoch sei. Angemessen seien 306 Euro pro Monat.

Die Mutter hatte 2009 und 2010 einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt. Beide wurden abgelehnt.

Das Jobcenter bewilligte Grundsicherung für Juni bis November 2011 von 645,34 Euro pro Monat und berücksichtigte eine Bruttokaltmiete von 298,76 Euro sowie tatsächliche Heizkosten von 47,34 Euro pro Monat sowie Abfallgebühren.

Die Klägerinnen reichten die Betriebskostenabrechnung vom August 2011 für 2010 ein, mit einer Nachzahlung von 226,75 Euro. Das Jobcenter bewilligte davon 61,86 Euro.

Im September 2011 zogen die Klägerinnen um. Laut Mietvertrag lag die neue Kaltmiete bei 370 Euro pro Monat und 50 Euro Heizkosten.

Rente wegen voller Erwerbsminderung

Das Jobcenter bewilligte für September bis November 2011 703,93 Euro pro Monat. Mit weiterem Änderungsbescheid im September 2011 bewilligte das Jobcenter höhere Leistungen, da es auch bei der zweiten Klägerin einen Anspruch auf Grundsicherung erkannte. Die Klägerinnen legten Widerspruch ein.

Der Rentenversicherungsträger teilte mit, dass die Mutter seit April 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden sei, in Höhe von 656, 01 Euro pro Monat. Das Jobcenter bewilligte höhere Leistungen für August 2011.

Jobcenter sagt: Zuständig ist die Rentenversicherung

Für Juni bis November 2011 wurde die Rente wegen voller Erwerbsminderung auf die Leistungen nach dem SGB II angerechnet. Eine Erstattung für die Leistungsberechtigte wollte das Jobcenter nicht zahlen, denn hier sei die Rentenversicherung zuständig.

“Ohne Erwerbsfähigkeit gibt es kein Bürgergeld”

Die Begründung des Jobcenters lautete: “die Klägerin (beziehe) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie sei daher nicht erwerbsfähig (…). Höhere Leistungen als die vorläufig erbrachten stünden der Bedarfsgemeinschaft nicht zu.”

Die Betroffenen klagten dagegen mit der Begründung, dass eine Leistungsberechtigung vorhanden sei nach dem SGB II. Denn die Rentenversicherung hätte erst nachträglich eine Rente bewilligt.

“Anspruch auf Leistungen wegen Erwerbsminderung besteht”

Das Sozialgericht Magdeburg wies die Klage ab, denn es gebe dem Grunde nach keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, da beide Frauen nicht erwerbsfähig seien.

Das Landessozialgericht stimmte erstens zu, dass das Jobcenter wegen der Erwerbsminderung die Kosten nicht zu tragen hätte: “Die Klägerin (…) hatte Anspruch auf Leistungen (…) bei Erwerbsminderung (…). Insbesondere steht fest, dass sie im streitigen Zeitraum dauerhaft voll erwerbsgemindert war.”

“Übernahme der vollen Kosten der Unterkunft ist berechtigt”

Zweitens erkannte es das Begehren der Klägerinnen auf die Übernahme höherer Kosten für Unterkunft als berechtigt an: “Die Klägerinnen haben dargelegt, dass der Umzug aufgrund der sexuellen Belästigung durch einen Nachbarn, der eingeschränkten Nutzbarkeit aufgrund der Behinderung der Klägerin sowie einer Schimmelbildung erfolgt sei.” Der Umzug sei also nachvollziehbar.

Die nachträglich bewilligte Rente könne nicht auf den Leistungsanspruch angerechnet werden. Die Leistungsberechnung des Jobcenters treffe also nicht zu. Richtig erkannt hätte das Jobcenter aber, dass nicht wegen Bürgergeld sondern wegen Rente ein Erstattungsanspruch gemacht werden müsste.

Es bestünde ein Anspruch auf Leistungen für die Kosten der Unterkunft in voller Höhe. Im strititgen Zeitraum seien die Kosten der Unterkunft aber nur mit 298,76 Euro übernommen worden, nicht die tatsächlichen 318,57 und später 370 Euro. Ebenso seien nur 61,86 Euro von den 226,75 Euro der Betriebskostennachzahlung übernommen worden.

“Nicht das Jobcenter zahlt, sondern die Sozialhilfe”

Den Leistungsberechtigten muss also die Differenz zwischen den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und der vom Jobcenter bereits getragenen Summe ausgezahlt werden. Allerdings nicht vom Jobcenter, sondern vom Landkreis als Sozialhilfeträger.

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