Bürgergeld: Zuständigkeits-Trick gescheitert – Gericht zwingt Jobcenter zur Bürgergeld-Zahlung

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Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Az.: L 21 AS 537/25 B ER, Beschluss vom 8.7.2025) hat einem schwerbehinderten Antragsteller im Eilverfahren Bürgergeld zugesprochen – obwohl das Jobcenter behauptete, der Mann halte sich überwiegend bei seiner Partnerin in einer anderen Stadt auf und sei daher „anderswo zuständig“.

Die Richterinnen und Richter machten klar: Die örtliche Zuständigkeit ist keine materielle Anspruchsvoraussetzung. Wenn ein Jobcenter Zweifel hat, muss es weiterleiten – nicht ablehnen. Und solange gestritten wird, bleibt der ablehnende Träger leistungspflichtig.

Der Fall zeigt beispielhaft, wie Betroffene sich gegen pauschale „Unzuständig“-Bescheide wehren können – und worauf es in Eilverfahren tatsächlich ankommt.

Worum ging es?

Der Antragsteller lebt seit 18 Jahren in derselben Stadt, ist schwerbehindert (GdB 80, Merkzeichen G und aG) und pflegebedürftig (Pflegegrad II). Nach Auslaufen der Bewilligung verweigerte das Jobcenter die Weiterbewilligung ab Februar 2025.

Begründung: Aus Kontoauszügen ergäben sich zahlreiche Abbuchungen im Raum der Stadt, in der seine Freundin wohne; Arzttermine und die Anwaltskanzlei lägen ebenfalls dort. Daraus konstruierte die Behörde eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts – und erklärte sich für unzuständig.

Das LSG entschied anders: Bürgergeld vorläufig zahlen – Regelbedarf 563 Euro monatlich, Heizkosten 68 Euro, Unterkunft 500 Euro (für KdU ab März 2025), befristet bis 30.9.2025 bzw. bis zur rechtskräftigen Hauptsache. Die außergerichtlichen Kosten muss das Jobcenter erstatten.

Was hat das Gericht klargestellt?

1. Zuständigkeit ist kein Ablehnungsgrund.
Nach § 36 SGB II bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit zwar nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. Das ist aber kein Filter, um Leistungen zu verwehren. Hält sich ein Jobcenter für unzuständig, hat es nach § 16 SGB I den Antrag weiterzuleiten. Tut es das nicht, greift § 43 Abs. 1 S. 2 SGB I: Der ablehnende Träger bleibt vorleistungspflichtig.

2. Eilverfahren sichern das Existenzminimum.
Bei existenzsichernden Leistungen muss das Gericht intensiv prüfen. Sind alle Tatsachen nicht aufklärbar, zählt die Folgenabwägung zugunsten des Grundrechts auf Sicherung des Lebensminimums – insbesondere bei Kündigung der Wohnung, drohender Gassperre und gesundheitlichen Einschränkungen.

3. Gewöhnlicher Aufenthalt: Realität statt Scheinargumente.
Einzelne Indizien – Abbuchungen in anderer Stadt, Arzttermine, seltene Vorsprachen, geringer Wasserverbrauch – beweisen keinen verlagerten Lebensmittelpunkt. Entscheidend ist der tatsächliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse. Hier überzeugten die eingerichtete Wohnung, persönliche Unterlagen vor Ort, familiäre Bindungen und die eidesstattliche Versicherung des Betroffenen, gestützt durch Zeugen (Partnerin, Stiefvater). Kurzaufenthalte bei der Partnerin ändern den gewöhnlichen Aufenthalt nicht.

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Indizien richtig einordnen

Argument des Jobcenters Einordnung durch das Gericht
Abbuchungen/Tankbelege in anderer Stadt Plausible Erklärung: Partnerin erledigt Einkäufe, nutzt EC-Karte und Auto; keine Belege für dauerhaften Aufenthalt außerhalb.
Arzttermine und Anwalt auswärts Organisation über Hilfe Dritter; Praktikabilität rechtfertigt auswärtige Behandler – kein Wohnortwechsel.
Seltene Vorsprachen, AU-Bescheinigungen Gesundheitszustand und Mobilitätseinschränkungen erklärten das; kein belastbarer Schluss auf Verlagerung.
Geringer Wasserverbrauch Zweifelhaft, aber nicht durchschlagend: eidesstattliche Versicherung, Wohnungsbefund und Zeugenaussagen überwiegen.
Außendienst traf seltener an Späterer angetragener Besuch bestätigte Anwesenheit; zuvor nur Nichtantreffen ohne Beweiswert.

Warum das Urteil wichtig ist

Wer Bürgergeld beantragt, gerät bei Zuständigkeitsstreit schnell zwischen die Stühle. Das LSG setzt dem ein Stoppschild: Kein Ping-Pong auf dem Rücken der Betroffenen.

Die Entscheidung zwingt Jobcenter, ihrer Weiterleitungspflicht nachzukommen und bei unklarer Zuständigkeit nicht die Existenzsicherung zu riskieren. Für Betroffene heißt das: Eilrechtsschutz kann Lücken schließen, bevor es zu Wohnungskündigungen oder Energiesperren kommt.

Was Betroffene jetzt wissen sollten

Wer mit dem Einwand „Sie wohnen gar nicht hier“ konfrontiert wird, sollte aktiv gegenhalten: Der gewöhnliche Aufenthalt lässt sich belegen – durch Mietvertrag, den tatsächlichen Zustand der Wohnung, Postzustellung, soziale Bindungen, gesundheitliche Einschränkungen und Zeugenaussagen.

Eine eidesstattliche Versicherung verleiht dem Vortrag besonderes Gewicht. Gleichzeitig gilt: Erklären statt schweigen – etwa warum Abbuchungen in einer anderen Stadt auftauchen oder Arztbesuche auswärts erfolgen.

Drohen Kündigung, Strom- oder Gassperre, ist die Eilbedürftigkeit regelmäßig gegeben. Dann kann das Gericht eine vorläufige Zahlung anordnen – so wie hier: Regelbedarf plus Kosten der Unterkunft und Heizung für einen befristeten Zeitraum.

Was das für die Jobcenter bedeutet

Behördenpraxis, die Anträge mit einem knappen „woanders zuständig“ abblockt, ist rechtswidrig und riskant. Wer nicht weiterleitet, riskiert Kostenentscheidungen zu seinen Lasten und gerichtliche Verpflichtungsbeschlüsse.

Der Beschluss mahnt zu sauberer Sachverhaltsaufklärung und rechtzeitigem Trägerwechsel im Verfahren – nicht zur Sperre existenzsichernder Leistungen.

Fazit

Das LSG NRW setzt ein deutliches Signal: Zuständigkeitsstreit darf nicht zur Existenzgefährdung führen. Für Betroffene ist der Beschluss ein praktischer Leitfaden – und für Jobcenter eine Erinnerung an die Pflicht zur Weiterleitung und Vorleistung. Wer transparent darlegt, wo sein Lebensmittelpunkt liegt, und die Umstände glaubhaft macht, hat im Eilverfahren gute Karten.