Mit wegweisenden Urteil gibt das Sozialgericht Berlin Az. S 11 AS 1929/20 bekannt, dass im Haushalt mit SGB II-beziehenden Eltern lebende volljährige U25-Kind mit bedarfsdeckendem eigenem Einkommen nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist.
In der Regel ist der Volljährige auch weder mitteilungspflichtig ( § 60 SGB 1 ) noch kann ihm grob fahrlässige Unkenntnis vorgehalten werden, wenn dieser U25-Person in einem nur an einen Elternteil gerichteten Bewilligungsbescheid Leistungsansprüche nach dem SGB II zugewiesen werden, die ihm materiell-rechtlich nach dem SGB II nicht zustehen.
Eine Zurechnung von Verschulden des Vertreters der Bedarfsgemeinschaft erfolgt nur im Rahmen einer gewillkürten Vertretung bzw. rechtsgeschäftlichen Vollmacht oder Duldungsvollmacht.
Das Jobcenter muss bei mehreren volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft bzw. in einer Familiengemeinschaft durchaus damit rechnen, dass derjenige, der die Leistungen beantragt und die Bescheide erhält (§ 38 SGB II), nicht die anderen Bedarfsgemeinschafts- bzw. Familienmitglieder informiert, insbesondere wenn es Hinweise auf eine gestörte Bedarfsgemeinschaft gibt oder – wie hier – erwachsene Kinder unter 25 Jahre aufgrund eignen Einkommens mal Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sind, mal nicht.
Dies erscheint schon deshalb sachgerecht, weil – anders als im Verhältnis der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern – bei einem volljährigen Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft eine Zurechnung von Verschulden des Vertreters nur im Rahmen einer gewillkürten Vertretung bzw. rechtsgeschäftlichen Vollmacht oder Duldungsvollmacht erfolgen kann (vgl. z.B. Landessozialgericht Hamburg vom 20.10.2011 – L 5 AS 87/08 – ).
Fazit
Der Rückforderungsbescheid des Jobcenters an das volljährige Kind war aufzuheben, denn der Tatbestand nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X war – nicht erfüllt.
Die Kammer hatte auch keine Zweifel daran, dass dem Kläger die beiden Bescheide – mit denen ihm durch die Herausnahme seines Erwerbseinkommens rückwirkend ein monatlicher Leistungsbetrag zugewiesen wurde – nicht bekannt geworden sind und er diese Gelder auch nicht erhalten hat.
In der Familie waren sich die Eltern einig, die Söhne aus den Angelegenheiten mit dem Jobcenter herauszuhalten und nicht zu informieren. Für die Kammer ist deutlich geworden, dass die an den Vater gerichteten Bescheide den Söhnen nicht vorgelegt worden und der erfolgten Bewilligung auch nicht gemeinsam mit den erwachsenen Söhnen besprochen worden sind.
Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.
Bescheid prüfenWas sollten Bürgergeld Familien, welche mit erwachsenen Kindern zusammen wohnen, welche wohl möglich keine Leistungen beziehen, beachten?
1. Sind die erwachsenen Kinder nicht hilfebedürftig nach dem SGB II ( § 9 ), weil sie über eigenes Einkommen verfügen, sind sie auch kein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft.
2. Eine Zurechnung des Verschuldens nach allgemeinen Regeln (§§ 166, 278 BGB) unter volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft kann jedenfalls nicht über § 38 SGB 2 begründet werden. Sie kommt vielmehr nur in den Fällen einer rechtsgeschäftlich erteilten Vollmacht oder einer gesetzlichen Vertretung in Betracht. Die rechtsgeschäftlich erteilte Vollmacht kann ausdrücklich erteilt werden, aber auch konkludent in Form einer sog Duldungsvollmacht.
3. Das Vorliegen einer Duldungsvollmacht setzt voraus, dass das vertretene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Kenntnis vom Verhalten des Vertreters hat und dies stillschweigend duldet , was in diesem Einzelfall nicht so war, denn die Eltern hielten die erwachsenen Söhnen aus den Angelegenheiten mit dem Jobcenter raus.
4. Bewilligungsbescheide des Jobcenters sollten gründlich gelesen werden und es muss kontrolliert werden, ob die Berechnungen stimmen.
5. Das Jobcenter muss bei mehreren volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft bzw. in einer Familiengemeinschaft durchaus damit rechnen, dass derjenige, der die Leistungen beantragt und die Bescheide erhält (§ 38 SGB II), nicht die anderen Bedarfsgemeinschafts- bzw. Familienmitglieder informiert, deshalb sollten im Einzelfall auch die anderen Nicht Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vom Jobcenter informiert werden, so auch der Hinweis des Gerichts.
6. Wer es duldet, dass ein Dritter für ihn Leistungen nach dem SGB II beantragt, muss sich dessen Verhalten nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht zurechnen lassen ( vgl. BSG, Urt. v. 08.12.2020 – B 4 AS 46/20 R -).
Wer die Vollmacht nicht widerruft, haftet, so das Landessozialgericht Niedersachsen – Bremen Az. L 11 AS 330/22.