Durch die Reform des Wohngeldes 2023 haben weit mehr Haushalte mit geringem Einkommen Anspruch auf Wohngeld als zuvor – rund zwei Millionen.
Für die zuständigen Verwaltungen bedeutet das, weit mehr Anträge bearbeiten zu müssen als vorher, ohne aber darauf vorbereitet zu sein, die einzelnen Fälle schneller zu bearbeiten.
Deshalb dauert die Bearbeitung lange – zum Schaden der Betroffenen. Diese warten nicht nur, sondern müssen oft hungern und frieren.
Rentner heizt und duscht nicht
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg interviewte den Rentner Bernd Lange, der zum Zeitpunkt des Interviews bereits 24 Wochen auf sein Wohngeld wartete. Angekündigt waren 16 Wochen.
Lange hungerte nur deswegen nicht, weil er im Sommer auf Vorrat für den Winter eingekauft hatte. Er duscht weder noch nutzt er die Heizung. Das Warten auf das Wohngeld schränkt seine Lebensqualität massiv ein. Er muss 568 Euro für seine Miete bezahlen – bei 900 Euro Rente.
Warum kommt es zum Stau?
Der RBB befragte eine Mitarbeiterin der zuständigen Behörde in Potsdam, warum es zu den überlangen Wartezeiten bei den Wohngeldanträgen kommt. Immerhin wurden vor Ort doppelt so viele Mitarbeiter/innen eingestellt, um die größere Menge der Ansprüche zu bewältigen.
Der Interviewten zufolge dauert es aber, um die neuen Angestellten einzuarbeiten. Die hohe Zahl der Anträge müsste manuell bearbeitet werden. Es gäbe 4000 Anträge mehr als 2022 und es dauere bis zu fünf Monaten, diese jeweils vollständig zu bearbeiten. Fazit: Eine größere Anzahl an Anträgen fällt hier also zusammen mit einer ungenügenden Digitalisierung.
Dreimal so viel Berechtigte wie 2022
Seit zu Beginn des Jahres 2023 das Wohngeld reformiert wurde, haben in Deutschland dreimal so viele Geringverdiener/innen einen Anspruch auf Unterstützung als noch 2022. Das sind insgesamt circa zwei Millionen Haushalte.
Die bis zu fünf Monaten Wartezeit in Potsdam ist zwar in Brandenburg das Maximum, doch auch in Märkisch-Oderland sind längere Wartezeiten die Norm. Ein Mitarbeiter in Märkisch-Oderland sagte, der Anstieg sei zwar nicht überraschend gewesen, doch das Einarbeiten zusätzlicher Mitarbeiter/innen habe länger gedauert als erwartet.
Warteschleifen in ganz Deutschland
Die langen bis extrem langen Wartezeiten sind verbunden mit den oft katastrophalen Folgen im Alltag der Betroffenen (die ja aufgrund ihrer Armut auf Unterstützung angewiesen sind). Diese unwürdige Situation gibt es nicht nur Brandenburg.
Zahlreiche Berichte liegen vor über ähnliche Problemlagen in Städten wie Köln, Minden und Siegen in Nordrhein-Westfalen, in Bremerhaven und Bremen, in München, Leipzig oder auch in hessischen Städten wie Wiesbaden. In Bremen dauert es zum Beispiel rund drei bis fünf Monate, bis ein Antrag abgearbeitet ist, und in Nürnberg sieht es ähnlich aus.
Diese Vielfalt an Problemen in den Behörden, die Menge der Anträge nicht zeitnah zu bewältigen, zeigt, dass hier nicht das Versagen einzelner Mitarbeiter/innen oder einer bestimmten Struktur vor Ort verantwortlich ist.
Vielmehr handelt es sich um systemische Probleme: Die Digitalisierung der zuständigen Behörden hinkt erstens den Erfordernissen hinterher.
Zweitens mussten die Wohngeldstellen im Umstellen auf das neue Gesetz zusätzlich zu den Neuanträgen auch für die Haushalte neue Bescheide erstellen, die zuvor bereits Wohngeld bezogen. Drittens schlug zu Beginn des Jahres 2023 auch noch ein Update der Wohngeld-Berechnungs-Software fehl.
Vorrübergend Bürgergeld beantragen
Auch wenn das Wohngeld eine “vorrangige Leistung” ist, können Betroffene, sofern ein Anspruch besteht, vorrübergehend Bürgergeld beantragen, bis das Wohngeld zur Auszahlung kommt. Weiteres dazu lesen Sie hier.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.