Das Verwaltungsgericht Mainz hat entschieden: Eine Bewerberin mit anerkannter Schwerbehinderung wurde im Auswahlverfahren für eine Beamtenlaufbahn zu Unrecht nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Die Folge: Die öffentliche Arbeitgeberin muss eine Entschädigung in Höhe von 2.417,74 Euro zahlen – zuzüglich Zinsen.
Das Urteil setzt ein deutliches Zeichen im Umgang mit dem Diskriminierungsschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und der Pflicht öffentlicher Arbeitgeber zur fairen Behandlung schwerbehinderter Bewerber.
Hintergrund: Bewerbung auf Sachbearbeiterstelle abgelehnt
Die Klägerin, Jahrgang 1984, hatte sich im Frühjahr 2020 auf eine öffentlich ausgeschriebene Stelle im mittleren Verwaltungsdienst beworben. Neben ihrer Fachhochschulreife verfügte sie über eine dreijährige Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie und umfangreiche Berufserfahrung in verschiedenen administrativen Tätigkeiten.
Trotz des Hinweises auf ihre Schwerbehinderung mit einem Grad von 50 erhielt sie eine standardisierte Absage – ohne vorherige Einladung zu einem Gespräch. Begründung: Sie erfülle die formellen Qualifikationen der Stellenausschreibung nicht. Insbesondere fehle ihr ein als „förderlich“ eingestufter kaufmännischer Berufsabschluss.
Formale Anforderungen vs. tatsächliche Qualifikation
Die zentrale Streitfrage drehte sich um die Definition einer „förderlichen Berufsausbildung“. Die Beklagte, eine Bundesbehörde, bestand darauf, dass nur Bewerber mit einer Ausbildung zur Kauffrau oder zu vergleichbaren Verwaltungsberufen berücksichtigt würden. Die Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie falle nicht darunter.
Diese Sichtweise widersprach jedoch Einschätzungen mehrerer Industrie- und Handelskammern, die der Ausbildung kaufmännischen Charakter zuschrieben. Auch Inhalte wie Personalführung, Marketing und betriebswirtschaftliche Steuerung seien Teil des Ausbildungsplans.
Das Gericht folgte dieser Einschätzung und stellte fest: Eine offensichtliche Nichteignung, wie von der Behörde behauptet, lag nicht vor. Damit bestand die gesetzliche Pflicht zur Einladung gemäß § 165 Satz 3 SGB IX.
Was das Gesetz verlangt – und was die Behörde versäumte
Öffentliche Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, sofern deren fachliche Eignung nicht „offensichtlich“ fehlt. Diese Regel soll Chancengleichheit sichern und Benachteiligung verhindern.
Laut Gericht war die Ablehnung der Klägerin ohne Gespräch ein klarer Verstoß gegen diese Vorschrift. Die Behörde habe sich bei der Bewertung zu sehr auf formale Kriterien – etwa den Berufstitel – gestützt und nicht geprüft, ob die tatsächlichen Fähigkeiten und beruflichen Erfahrungen der Klägerin die Anforderungen erfüllen könnten.
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Folgen für öffentliche Arbeitgeber: Mehr Sorgfalt bei der Bewerberauswahl nötig
Dieses Urteil verpflichtet Behörden, bei Stellenausschreibungen nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zu prüfen, ob Bewerber mit untypischen Berufsbezeichnungen dennoch geeignet sein könnten. Der Fall macht deutlich, dass auch vermeintlich „branchenfremde“ Ausbildungen unter Umständen gleichwertig sein können – insbesondere wenn dies durch externe Stellen wie die IHK bestätigt wird.
Zudem stellte das Gericht klar, dass der Hinweis auf die Ablehnung ähnlicher Bewerbungen (z. B. von Hotelfachleuten) keine Rechtfertigung für die pauschale Ablehnung der Klägerin darstellt. Die Vermutung einer Benachteiligung aufgrund der Behinderung konnte nicht widerlegt werden.
Wichtige Kriterien für die Entschädigung
Das Gericht sprach eine sogenannte Regelentschädigung aus – ein Bruttomonatsgehalt in Höhe der niedrigsten Besoldungsstufe (A6, Stufe 1), das bei der ausgeschriebenen Stelle zur Anwendung gekommen wäre. Die Höhe wurde mit 2.417,74 Euro beziffert. Der Betrag orientiert sich an den gesetzlichen Vorgaben des AGG, wonach im Falle einer diskriminierenden Nichteinstellung maximal drei Monatsgehälter geltend gemacht werden können.
Weil nicht feststand, ob die Klägerin bei benachteiligungsfreier Auswahl eingestellt worden wäre, blieb es beim Mindestmaß der Entschädigung. Zinsen ab dem Zeitpunkt der Klageerhebung wurden zusätzlich gewährt.
Was bedeutet das Urteil für Betroffene?
Für Menschen mit Schwerbehinderung, die sich auf Stellen im öffentlichen Dienst bewerben, hat das Urteil eine klare Signalwirkung: Öffentliche Arbeitgeber dürfen Bewerbungen nicht allein deshalb ablehnen, weil der Berufsabschluss nicht exakt dem ausgeschriebenen Profil entspricht – sofern vergleichbare Qualifikationen vorhanden sind.
Wird ein Vorstellungsgespräch trotz erfüllter Grundvoraussetzungen unterlassen, kann dies als unzulässige Benachteiligung gewertet werden. Ein Anspruch auf Entschädigung nach § 15 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) lässt sich in solchen Fällen rechtlich durchsetzen – selbst dann, wenn eine tatsächliche Einstellung nicht sicher zu erwarten gewesen wäre.