Der ehemalige Berliner Finanzsenator und heutiges Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin behauptet, Geldmangel sei nicht immer das Problem, ein Teil der Hartz IV-Bezieher würde an "Verhaltensarmut" leiden.
Anlass der neuerlichen Hartz IV-Provokationssprüche des Thilo Sarrazins war eine Diskussionsveranstaltung in Berlin. Sarrazin war neben der TAZ Redakteurin Ulrike Herrmann eingeladen, die gerade ihr neues Buch "Hurra, wir dürfen zahlen" vorstellte. Herrman zeigt in ihrem Buch auf, dass die Mittelschicht gegenüber Hartz-IV Beziehern (sog. "Unterschicht") aufgewiegelt wird, obwohl sie schon Jahrelang die steuerlichen Entlastungen der sog. Oberschicht bezahlt. Dennoch würde sich die sog. Mittelschicht zu den "Gewinnern" zählen und sich pardou von sozial Schwachen abgrenzen. Das Unwort "Sozialschmarotzer" würde für die Armen dieser Gesellschaft verwendet werden, obwohl die Reichen immer weniger Steuern zahlen müssten und defaktisch der große Anteil der Steuerlast bei der sog. Mittelschicht hängen bleibt. "Die Mittelschicht sieht sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet würde." Der Mittelschicht wirft Herrmann vor allem eins vor: den Selbstbetrug.
Doch eine richtige Diskussion über diese Thesen wurde nur selten geführt. Knapp drei Wochen vor dem Beinahe-Rauswurf aus der SPD ließ sich Sarrazin zu neuerlichen Behauptungen hinreißen, die mal wieder anscheinend belegen sollen, dass Hartz IV Bezieher angeblich in ihrer schlimmen Situation verharren. Geldmangel wäre nicht das Problem, so Sarrazin. "Viele Dinge, die wir der Armut zuschreiben, haben an sich mit individuellem Verhalten zu tun." Sarrazin, der auch schon mal Hartz IV Beziehern geraten hat, sie sollen kalt duschen, um Kosten zu sparen, konnte auch an diesem Abend mit seinen vermeintlichen Tipps nicht hinterm Berg halten. "Menschen können es vielleicht nicht ändern, dass sie keine Arbeit haben, aber was sie ändern können ist, ob sie morgens aufstehen und ihren Kindern ein Schulbrot machen." Diese Aussage suggeriert uns, Erwerbslose kümmern sich zu wenig um ihre Kinder und schlafen lieber aus, anstatt Schulbrote zu machen. Eine Behauptung, die später sicher wieder von Anderen als Fakt dagestellt wird, obwohl sie tatsächlich nicht belegbar und nachweisbar ist.
Und so zogen sich die Behauptungen über den Abend hinweg. "Die Armut eines Teils der Unterschicht ist nicht die materielle Armut." Oft sei es "Sozialisations- und Verhaltensarmut" der Betroffenen. Als "anschauliches Beispiel" nannte Sarrazin, dass im Stadtteil Wedding in 45 Prozent der Kinderzimmer Fernseher stehen würden, in reicheren Gegenden der Stadt allerdings nur in 4,4 Prozent der Kinderzimmer. Und wenn Arbeitslosengeld-II Beziehern das Geld nicht reichen würde, um Lebensmittel zu kaufen, würde es daran liegen, dass die Gelder für Zigaretten und elektronische Geräte "zweckentfemdet" würden. "Wer das aus dem Satz für Lebensmittel holt, hat natürlich hinterher die Tendenz, die Kinder in die Suppenküche zu schicken." Schnell schob Sarrazin noch hinterher: "Man darf nicht pauschalisieren". Nur ein Drittel der Erwerbslosen sei arbeitsfähig, aber – unwillig. Die übrigen wollten gerne arbeiten, seien teils aber nicht in der Lage, so Sarrazin.
Und so ergab der Abend ein "Kessel Buntes" von Behauptungen über Hartz IV-Bezieher. Etwa 500 Zuhörer lauschten gestern der Veranstaltung. Ein Großteil der Besucher ließe sich der vermeintlichen Mittelschicht zu ordnen. Und oft bekam Sarrazin für seine vermeintlichen Thesen viel Applaus vom Publikum. Die Position von Ulrike Herrmann bestätigte sich an diesem Abend bestens: Der Selbstbetrug der Mittelschicht mit dem ehrgeizigen Eifer sich unbedingt von den sozial Schwachen dieser Gesellschaft abgrenzen zu müssen. Das geht anscheinend am Besten mit Thilo Sarrazin. Der Oberschicht wirds freuen. (09.04.2010)
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