Viele Versicherte erleben es als Schock: Sie sind seit Wochen oder Monaten arbeitsunfähig geschrieben – und plötzlich kündigt die Krankenkasse an, das Krankengeld einzustellen. Häufig beruft sie sich dabei auf eine Einschätzung des Medizinischen Dienstes (MD).
Der Haus- oder Facharzt schreibt weiter krank, aber die Zahlung soll enden. Das wirkt widersprüchlich – ist es aber sozialrechtlich nicht zwingend. Dieser Beitrag erklärt die Mechanik hinter solchen Entscheidungen, die Rolle der behandelnden Ärzte und des Medizinischen Dienstes, und welche Schritte Betroffene jetzt gehen sollten.
Lohnfortzahlung, Krankengeld, Blockfristen
Zu Beginn einer Erkrankung trägt in der Regel der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung – längstens sechs Wochen je Erkrankungsfall. Erst danach tritt die gesetzliche Krankenkasse mit dem Krankengeld ein.
Diese Reihenfolge ist gesetzlich verankert: Die Entgeltfortzahlung folgt aus § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG), das Krankengeld ist die Leistung der GKV bei länger andauernder Arbeitsunfähigkeit.
Wichtig ist die korrekte Bezugsdauer: Krankengeld gibt es wegen derselben Krankheit maximal 78 Wochen innerhalb einer sogenannten Dreijahres-Blockfrist – nicht 72. Das ergibt sich unmittelbar aus § 48 SGB V. Zeiten der Entgeltfortzahlung fallen in diese 78 Wochen nicht hinein, weil währenddessen der Krankengeldanspruch ruht.
Damit der einmal entstandene Krankengeldanspruch ohne Lücke fortbesteht, muss die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig ärztlich festgestellt werden. Nach § 46 SGB V genügt dafür regelmäßig die Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuvor bescheinigten Ende (Samstage zählen insoweit nicht als Werktage).
Seit 2023 läuft der Nachweis der AU zwischen Arztpraxis, Krankenkasse und Arbeitgeber digital über die elektronische AU (eAU); Beschäftigte müssen dem Arbeitgeber keine Papierbescheinigung mehr vorlegen. Für Versicherte ändert das an ihren Pflichten – AU melden, ärztlich feststellen lassen – nichts.
Haus- und Fachärzte: medizinische Feststellung, keine Leistungsentscheidung
Behandelnde Ärztinnen und Ärzte stellen eine Arbeitsunfähigkeit fest und bescheinigen sie – sie entscheiden aber nicht über die Leistung Krankengeld. Ihr ärztliches Urteil ist die wesentliche Grundlage, an die die Krankenkasse allerdings nicht in jedem Fall gebunden ist.
Der Medizinische Dienst darf die ärztliche Behandlung nicht beeinflussen oder gar Therapieanweisungen geben; seine Aufgabe ist die sozialmedizinische Begutachtung für die Kasse.
Warum die Krankenkasse den Medizinischen Dienst einschaltet
Die Kasse muss oder darf den Medizinischen Dienst einschalten, wenn gesetzlich vorgesehene Fälle vorliegen oder Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen – etwa wegen Art, Schwere, Dauer, Häufigkeit der Erkrankung oder auffälliger Muster. Rechtsgrundlage ist § 275 SGB V.
Auch der Arbeitgeber kann ausdrücklich verlangen, dass die Kasse eine MD-Begutachtung zur Überprüfung der AU einholt.
In der Praxis begutachtet der Medizinische Dienst häufig nach Aktenlage; persönliche Untersuchungen sind möglich, aber nicht die Regel. Die einschlägige Begutachtungsanleitung des MD beschreibt ausdrücklich die „Beurteilung nach Aktenlage“ und, als Alternative, die „Beurteilung mit persönlicher Befunderhebung“.
Prüfmaßstab ist stets die Kombination aus krankheitsbedingter Leistungsminderung und konkreten Anforderungen des letzten Arbeitsplatzes. Genau deshalb sind belastbare Informationen zur tatsächlichen Tätigkeit so wichtig.
Wenn der MD anders urteilt als der behandelnde Arzt
Kommt der MD in seiner gutachtlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass keine Arbeitsunfähigkeit (mehr) vorliegt, kann die Krankenkasse das Krankengeld einstellen – auch wenn weiterhin eine AU-Bescheinigung existiert.
Das ist rechtlich zulässig, weil die Leistungsentscheidung bei der Kasse liegt, die sich auf das MD-Gutachten stützen darf. Die Begutachtungsanleitung verpflichtet den MD, Ergebnis und wesentliche Gründe zu dokumentieren, damit die Kasse eine tragfähige Entscheidung treffen kann.
Überraschungseffekt vermeiden: Recht auf Anhörung
Bevor die Kasse einen belastenden Verwaltungsakt erlässt – also etwa die Einstellung von Krankengeld – muss sie die Betroffenen anhören. Dieses allgemeine Verfahrensgrundrecht steht in § 24 SGB X.
Von der Anhörung darf nur in engen Ausnahmefällen abgesehen werden. Wer ohne Anhörung oder ohne ausreichende Begründung eine Einstellungsankündigung erhält, sollte das beanstanden.
Was Betroffene jetzt konkret tun können
Der erste Schritt führt zurück in die Praxis: Sprechen Sie mit der Ärztin oder dem Arzt, den der Medizinische Dienst kontaktiert hat. Bitten Sie um einen aktuellen Befundbericht, der Diagnose, Verlauf, Funktionseinschränkungen und Prognose nachvollziehbar darstellt. Dass manche Praxen auf MD-Nachfragen nur knapp reagieren, ist in der Beratungspraxis nicht selten – schwächt aber Ihre Position.
Ebenfalls entscheidend ist eine präzise Tätigkeitsbeschreibung: Welche Lasten heben Sie? Gibt es häufiges Treppensteigen? Bildschirmarbeit mit bestimmten Haltungszwängen? Schicht- und Wechseldienste?
Weil die AU die letzte konkret ausgeübte Tätigkeit betrifft, kann gerade diese Beschreibung für die Beurteilung den Ausschlag geben – etwa bei Kniebeschwerden in einem Bürojob mit regelmäßigen Laufwegen, Transporten und Treppen.
Dass der Arbeitsplatzbezug sozialmedizinisch maßgeblich ist, bestätigen die MD-Begutachtungsgrundlagen.
Werden Zweifel laut, lohnt sich außerdem der Blick nach vorn: Stufenweise Wiedereingliederung („Hamburger Modell“) kann eine Brücke zurück in den Beruf sein, wenn eine volle Belastung noch nicht geht.
Rechtsgrundlage ist § 74 SGB V. Der Wiedereingliederungsplan kommt aus der Arztpraxis; die Umsetzung erfordert die Zustimmung aller Beteiligten.
Widerspruch gegen die Einstellung: Frist und Vorgehen
Ergeht ein schriftlicher Bescheid über die Einstellung des Krankengeldes, gilt die allgemeine sozialrechtliche Widerspruchsfrist: ein Monat ab Bekanntgabe. Der Widerspruch sollte begründet werden und auf die medizinischen Unterlagen sowie die tätigkeitsbezogenen Anforderungen Bezug nehmen; zugleich kann Akteneinsicht verlangt werden.
Die Erfahrung zeigt: Wird fachkundig begründet widersprochen – etwa mit aktuellem Befundbericht und schlüssiger Tätigkeitsdarstellung –, korrigieren Krankenkassen ihre Entscheidungen nicht selten. Kommt es dennoch zum Streit, ist sozialgerichtlicher Eilrechtsschutz möglich; hierfür ist anwaltliche oder verbandliche Vertretung regelmäßig sinnvoll.
Fallbeispiele aus der Beratungspraxis
In einem geschilderten Fall erhielt ein Versicherter die Nachricht, der MD halte ihn in 14 Tagen wieder für arbeitsfähig; die Kasse kündigte die Einstellung des Krankengeldes an. Der Mann war weiterhin AU-geschrieben. Nach Ergänzung der medizinischen Unterlagen und einer genauen Beschreibung seines Arbeitsplatzes nahm die Kasse die Entscheidung zurück.
Im anderen Beispiel arbeitete eine Sekretärin mit Knieproblemen. Aus Sicht der Kasse „reiner Schreibtischjob“ – bis deutlich wurde, dass sie regelmäßig Getränke und Material in mehrere, nur über Treppen erreichbare Besprechungsräume tragen musste. Erst dieser arbeitsplatzspezifische Aspekt machte die AU nachvollziehbar.
Ärztliche Unabhängigkeit und praktische Konflikte
Mitunter verweigern Ärztinnen oder Ärzte weitere AU-Bescheinigungen, sobald der MD eingeschaltet ist – aus Unsicherheit, wegen Zeitdrucks oder Konfliktscheu. Rechtlich besteht dazu kein Zwang: Die Behandler entscheiden unabhängig über die AU-Feststellung; der MD darf nicht in die Behandlung eingreifen. Es hilft, das offen anzusprechen, die sozialmedizinische Perspektive zu erklären und die AU sauber zu begründen.
Fazit: Informiert handeln, Fristen wahren, Brücken nutzen
Wenn Krankengeld „wie aus heiterem Himmel“ stoppt, steckt selten Willkür dahinter, aber oft Kommunikation mit Lücken: knappe Arztberichte, fehlende Arbeitsplatzinformationen, Überraschung ohne Anhörung.
Wer die Systematik kennt – sechs Wochen Entgeltfortzahlung, bis zu 78 Wochen Krankengeld in der Blockfrist, rechtzeitige AU-Feststellung – und die Rolle des Medizinischen Dienstes richtig einordnet, kann aktiv gegensteuern. Entscheidend sind ein aktueller, substantiierter Befundbericht, eine realistische Tätigkeitsbeschreibung, das Prüfen von Wiedereingliederungsoptionen – und, falls nötig, ein fristgerechter, gut begründeter Widerspruch.
Hinweis: Dieser Beitrag bietet eine rechtlich fundierte Orientierung, ersetzt aber keine individuelle Rechtsberatung. Für den Widerspruch und ggf. gerichtlichen Eilrechtsschutz sollten Sie sich – je nach Präferenz – an einen Sozialverband oder eine Fachanwaltskanzlei für Sozialrecht wenden.