Die verbreitete Annahme, die Höhe einer Abfindung bemesse sich schematisch nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit, hält einer näheren Prüfung selten stand. Ein aktueller Fall zeigt, dass selbst bei nur zwei Jahren im Unternehmen deutlich höhere Abfindungen möglich sind, wenn die rechtlichen und prozesstaktischen Hebel richtig eingesetzt werden.
Entscheidend ist nicht die magische Zahl „ein halbes Bruttomonatsgehalt pro Beschäftigungsjahr“, sondern die Frage, ob die Kündigung wirksam ist – und welches Risiko der Arbeitgeber im Prozess trägt.
Zwei Jahre im Betrieb, 3.000 Euro als vermeintliche Obergrenze
Der betroffene Arbeitnehmer war erst zwei Jahre im Unternehmen. Legt man die populäre Rechnung von „0,5 Monatsgehältern pro Jahr“ zugrunde und unterstellt ein Bruttomonatsgehalt von 3.000 Euro, ergäbe sich eine Abfindung von lediglich 3.000 Euro.
Der Arbeitgeber bot „großzügig“ 4.000 Euro an. Eine solche Sicht blendet jedoch das Kernthema aus: Nicht die Formel entscheidet, sondern die Durchsetzbarkeit der Kündigung vor Gericht.
Betriebsbedingte Kündigung – und doch nur eine einzige Trennung
Im Verfahren begründete der Arbeitgeber die Kündigung mit betrieblichen Erfordernissen. Auffällig war, dass ausschließlich dieser eine Mitarbeiter entlassen wurde, obwohl der Betrieb über hundert Beschäftigte zählte.
Das ist nicht zwingend rechtswidrig, weckt aber Zweifel. Bei betriebsbedingten Kündigungen muss der Arbeitgeber eine belastbare unternehmerische Entscheidung und deren „dringende“ Erforderlichkeit darlegen.
Zugleich hat er die Sozialauswahl zu beachten, also zu begründen, warum gerade dieser Arbeitnehmer – und nicht sozial weniger schutzwürdige Vergleichspersonen – gekündigt wird. Wenn in einem größeren Betrieb nur eine einzelne Person „aus Gründen der Auftragslage“ gehen soll, verlangt das eine besonders sorgfältige Begründungslage. Fehlt sie, kippt die Kündigung.
Die „Faustformel“ ist kein Gesetz – und häufig unpassend
Die bekannte Faustformel von 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Jahr ist kein Rechtsanspruch und kein verbindlicher Maßstab. Sie spiegelt eher Durchschnittswerte aus gütlichen Einigungen wider, oftmals in Konstellationen, in denen die Kündigung rechtlich solide erscheint oder die Parteien rasch Frieden schließen wollen.
In vielen arbeitsgerichtlichen Vergleichen spielt die Formel überhaupt keine Rolle. Maßgeblich sind dann Prozessrisiken, Beweisbarkeit, Verfahrensdynamik und die wirtschaftlichen Interessen beider Seiten. Daraus können Ergebnisse entstehen, die weit ober- oder unterhalb der „Formel“ liegen.
Prozessrisiko als Verhandlungsmotor: Annahmeverzugslohn und Rückkehrgefahr
Im geschilderten Fall sprach einiges dafür, dass die Kündigung einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten würde. Bis zu einem Kammertermin und damit bis zu einem Urteil vergehen in der Praxis häufig mehrere Monate.
Verliert der Arbeitgeber, droht nicht nur die Rückkehr des Arbeitnehmers, sondern auch die Pflicht zur Zahlung von Annahmeverzugslohn für die Zeit seit Ablauf der Kündigungsfrist – also Gehälter, die der Arbeitnehmer trotz Nichtbeschäftigung verlangen kann.
Bei vier bis fünf Monaten Verfahrensdauer und einem Monatsverdienst von 3.000 Euro summiert sich dieses Risiko schnell auf 12.000 bis 15.000 Euro brutto, zuzüglich Nebenkosten und Unwägbarkeiten. Genau dieses Risiko prägt die Vergleichsverhandlungen erheblich.
Vom Scheinangebot zur tragfähigen Einigung: 10.000 Euro statt 4.000 Euro
Mit dieser Risikoperspektive im Rücken ist ein Angebot von 4.000 Euro nicht mehr überzeugend. Es trägt dem möglichen Annahmeverzug, der ungewissen Prozesslage und der Option der Weiterbeschäftigung nicht Rechnung.
Die Gegenseite wird sich fragen lassen müssen, weshalb sie ein gerichtliches Niederlagenrisiko in fünfstelliger Größenordnung eingeht, wenn eine verlässliche einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses für 10.000 Euro den Rechtsfrieden sofort herstellt. Im Ergebnis einigten sich die Parteien auf genau diesen Betrag – mehr als das Dreifache der anfänglichen „Formel“.
Rechtlicher Rahmen: Was bei betriebsbedingten Kündigungen zählt
Für die Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen genügt es nicht, pauschal auf Auftragsrückgänge zu verweisen. Erforderlich ist eine nachvollziehbare, auf die Zukunft bezogene unternehmerische Entscheidung, die den dauerhaften Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für die konkrete Stelle plausibel macht.
Hinzu treten die Anforderungen der Sozialauswahl. Verglichen werden müssen Arbeitnehmer, die auf derselben Hierarchie- und Tätigkeitsebene austauschbar sind. Kriterien wie Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung sind einzubeziehen.
Wird diese Auswahl nicht sauber durchgeführt oder nur formal behauptet, entstehen erhebliche Angriffspunkte. Gerade in größeren Betrieben greifen zudem weitere Schutzmechanismen, etwa Beteiligungsrechte des Betriebsrats. All das erhöht die Prüfmaßstäbe – und damit das Risiko des Arbeitgebers.
Warum individuelle Strategie wichtiger ist als Rechenschemata
Der Fall illustriert, dass starre Rechenwege der Realität des Kündigungsschutzrechts nicht gerecht werden. Entscheidend ist eine frühe, gründliche Prüfung der Kündigungsgründe, der Sozialauswahl, der betrieblichen Organisation und der Prozesschancen.
Daraus leitet sich die richtige Verhandlungstaktik ab: Wo die Erfolgsaussichten gut sind, sollte nicht mit der „Formel“ begonnen werden, sondern mit dem realen Risiko, das der Arbeitgeber trägt. Wo die Lage schwächer ist, kann eine Formel als Orientierungswert dienen, ersetzt aber nie die Einzelfallanalyse.
Zeit ist ein Schlüsselfaktor: Die Drei-Wochen-Frist und das Momentum
Wer eine Kündigung erhält, muss die gesetzlichen Fristen im Blick behalten. Die Kündigungsschutzklage ist binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht einzureichen. Diese Frist ist strikt.
Wer sie versäumt, riskiert, dass selbst eine eigentlich fehlerhafte Kündigung bestandskräftig wird. Gleichzeitig schafft ein zügig eingeleitetes Verfahren Verhandlungsmomentum: Der Arbeitgeber merkt früh, dass er seine Gründe belegen muss und dass die Uhr im Hinblick auf Annahmeverzugsrisiken tickt.
Was Arbeitnehmer aus dem Fall mitnehmen sollten
Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist nur ein Baustein in einem komplexen Gefüge. Eine kurze Zugehörigkeit bedeutet nicht automatisch eine niedrige Abfindung.
Wichtig sind die Aussichten der Klage, die Qualität der arbeitgeberseitigen Begründungen und die Prozessführung. Wer seine Karten kennt, kann deutlich bessere Ergebnisse erzielen.
Dazu gehört eine fundierte Ersteinschätzung, die Prüfung der Unterlagen – vom Kündigungsschreiben über etwaige Auswahlrichtlinien bis zu Stellenbeschreibungen – sowie eine klare Verhandlungsstrategie, die die echten Risiken adressiert.
Fazit: Nicht die Formel verhandelt, sondern die Erfolgsaussicht
Abfindungen entstehen in Deutschland in der Regel durch Verhandlung, nicht durch Automatismen. Die richtige Frage lautet daher nicht: „Wie viele Jahre war ich dabei?“, sondern: „Wie angreifbar ist die Kündigung – und welches Risiko steht auf Arbeitgeberseite?“
Wo diese Analyse sorgfältig erfolgt, verschiebt sich der Maßstab. Dann können aus vermeintlichen 3.000 Euro sehr schnell 10.000 Euro werden.
Wer eine Kündigung erhält, sollte sich deshalb umgehend fachkundig beraten lassen, die Fristen wahren und die Verhandlung am tatsächlichen Prozessrisiko ausrichten – nicht an einer simplen Rechenformel.




