Arme müssen Armen helfen: So interpretiert die Bundesregierung das Hartz IV Verfassungsgerichtsurteil.
(04.08.2010) Anscheindend hat die Bundesregierung eine eigene Interpretation des vom Bundesverfassungsgerichts gefällten Hartz IV Urteils. Für die Bundesregierung bedeutet die Umsetzung: Mit dem Elterngeld Hilfebedürftiger sollen Gutscheine für arme Kinder finanziert werden. Durch die Abschaffung der Rentenversicherungsbeiträge für Hilfebedürftige und Streichung des befristeten Zuschlags sollen Hartz IV-Ausgaben des Bundes trotz der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuberechnung der Regelleistungen drastisch gesenkt werden.
Entwicklung der SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts:
Bis spätestens zum 31 Dezember 2010 hat der Gesetzgeber die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 geforderte Neuregelung der Hartz IV-Regelleistungen für Kinder und Erwachsene zu treffen. Der Gesetzgeber muss bis dahin „… ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“
Am 7 Juli 2010, etwa fünf Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf zum Bundeshaushaltsplan 2011 beschlossen. Für das Arbeitslosengeld II und Sozialgeld einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge (ohne Leistungen für Unterkunft und Heizung) wurden in diesem Entwurf des Bundeshaushaltsplans 20,9 Milliarden Euro veranschlagt, 3,0 Milliarden Euro weniger (!) als im Bundeshaushalt für das laufende Haushaltsjahr. Zugleich wurde das Soll 2011 für die „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ gegenüber dem Soll 2010 um 1,3 Milliarden Euro (auf 5,3 Milliarden Euro) reduziert und das Soll 2011 für den Anteil des Bundes an den „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ um 0,2 Milliarden Euro (auf 4,2 Milliarden Euro).
Dieser Haushaltsaufstellung, insbesondere der Kürzung des Ausgaben-Solls für das Arbeitslosengeld II um 3,0 Milliarden Euro, liegt offensichtlich eine besondere „Interpretation“ des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9 Februar 2010 zugrunde: „Arme müssen Armen helfen“. Dabei stehen nahezu alle gegenwärtig (noch) bestehenden SGB II-Leistungsansprüche und anrechnungsfreien Einnahmen der Hilfebedürftigen (Hartz IV), die vom Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich genannt wurden, zur Disposition. Im einzelnen hat die Bundesregierung auf ihrer Haushaltsklausur am 6 und 7 Juni 2010 beschlossen, folgende (noch) bestehende SGB II-Leistungsansprüche und anrechnungsfreien Einnahmen in Höhe von insgesamt 2,44 Milliarden Euro pro Jahr abzuschaffen – weit mehr als die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9 Februar 2010 nach dem Willen der Bundesregierung kosten darf:
– der verbliebene Rentenversicherungsbeitrag für erwerbsfähige Hilfebedürftige mit einem Ausgabenvolumen von etwa 1,8 Milliarden Euro pro Jahr.
– der befristete Zuschlag nach Bezug von beitragsfinanziertem Arbeitslosengeld, sofern dies zusammen mit dem ggf. erhaltenen Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz den Anspruch auf Arbeitslosengeld II und ggf. Sozialgeld übersteigt (§ 24 SGB II), mit einem Ausgabenvolumen von etwa 0,2 Milliarden Euro pro Jahr.
– der anrechnungsfreie Teil des Elterngeldes in der Höhe von 300 Euro pro Monat (§ 11 Abs. 3a SGB II und § 10 Abs. 1 bis 3 BEEG) mit einem Ausgabenvolumen von mindestens6 440 Millionen Euro pro Jahr. In der tabellarischen Übersicht zu den Ergebnissen der Kabinettsklausur wurde dieser Punkt als „Abschaffung Elterngeld bei Alg II“ bezeichnet.
Dies führte zu Irritationen, denn das „Elterngeld bei Alg II“ soll offenkundig nicht abgeschafft sondern vollständig auf die SGB II Leistungsansprüche (Hartz IV) angerechnet werden. D.h., die Mütter und/oder Väter, die ganz oder ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, werden weiterhin Elterngeld beantragen müssen (§ 5 SGB II), das ihnen dann vollständig (!) von ihren SGB IILeistungsansprüchen abgezogen wird (eine besondere Variante der „Hilfen aus einer Hand“). Für das staatliche „Arbeitslosengeld II“-Budget bedeutet dies: Die Arbeitslosengeld II-Ausgaben sinken mit jedem zusätzlich angerechneten Euro um einen Euro – wie schon bei der Erhöhung des Kindergeldes zum 1. Januar 2010.8 Bei „Abschaffung des Elterngeldes bei Alg II“ würden dagegen nicht die Arbeitslosengeld II-Ausgaben im Einzelplan 11 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) sinken sondern die Elterngeld-Ausgaben im Einzelplan 17 (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend).
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts („Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums“) wird in der Vorlage des Bundesfinanzministeriums zur „Haushaltsaufstellung 2011 und Finanzplanung des Bundes bis 2014“ vom 2 Juli 2010 nur an einer Stelle genannt. Es heißt dort: „Zudem werden als allgemeine Vorsorge für die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zu den bildungsbezogenen Bedarfen für Kinder mit ALG II-Bezug ab dem Jahr 2011 Mittel in Höhe von 480 Mio. Euro p.a. in den Einzelplan 60 eingestellt. Diese Vorsorge bedeutet kein Präjudiz für die anstehende Abstimmung des Gesetzentwurfs. Sie ist aber als Obergrenze für eine etwaige Verstärkung des Einzelplans 11 zu sehen.” Das Finanzierungsmodell kurz gefasst: Das (oder ein Teil des) den hilfebedürftigen Eltern vom SGB II-Leistungsanspruch abgezogene Elterngeld soll ihnen nach den Plänen der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), rechnerisch verteilt über 15 oder mehr Jahre, in Form von „Bildungsgutscheinen“ zugute kommen. (Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe – BIAJ, sb)
- Über den Autor
- Letzte Beiträge des Autors