Erstmals Antrag auf Grad der Behinderung stellen – Schritt für Schritt Anleitung

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Wer in Deutschland zum ersten Mal einen Grad der Behinderung (GdB) feststellen lassen möchte, betritt häufig juristisches Neuland. Der Vorgang erscheint komplex, doch er folgt klaren gesetzlichen Leitplanken. Ein frühzeitiges Verständnis der Kriterien, Fristen und Unterlagen kann Verfahrensdauer und Stress erheblich reduzieren.

Behinderung als gesetzlich definierte Beeinträchtigung

Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) versteht Behinderung als gesundheitliche Einschränkung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate besteht und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert.

Entscheidend sind nicht die Diagnosen, sondern die konkreten Funktionsstörungen, die aus einer Erkrankung resultieren. Erst wenn diese Beeinträchtigungen eine wesentliche Teilhabestörung darstellen, wird von Behinderung gesprochen.

Schwerbehinderung beginnt ab GdB 50

Menschen gelten als schwerbehindert, sobald der festgestellte GdB mindestens 50 beträgt. Die Einordnung ist nicht nur symbolisch: Ab diesem Schwellenwert greifen vielfältige Nachteilsausgleiche, etwa zusätzlicher Urlaubsanspruch, besonderer Kündigungsschutz und steuerliche Vergünstigungen.

Die medizinische Messlatte: Versorgungsmedizin-Verordnung

Ausschlaggebend für die Höhe des GdB sind die Begutachtungsrichtlinien der Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie legen für jede Funktionsstörung Bandbreiten fest – etwa bei Wirbelsäulenerkrankungen oder psychischen Leiden – und führen so zu einem einzelnen GdB für jedes Leiden.

Die Verordnung stellt klar, dass altersübliche Veränderungen grundsätzlich unberücksichtigt bleiben.

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Funktionsstörungen statt Diagnoselisten

In der Praxis scheitern viele Erstanträge, weil Versicherte lediglich ihre Diagnosen aufzählen. Maßgeblich ist jedoch, wie stark diese Diagnosen den Alltag einschränken.

Chronische Rückenschmerzen mögen auf dem Papier dieselbe ICD-Nummer tragen, doch die Auswirkungen reichen von gelegentlicher Bewegungseinschränkung bis zur dauerhaften Erwerbsunfähigkeit. Erst letztere Situation rechtfertigt höhere Einzelwerte im Gutachten.

Tabelle: Wann ein Grad der Behinderung in welcher GdB-Höhe zugesprochen wird

Diese Tabelle zeigt anhand von Beispielen, wann ein Grad der Behinderung welcher Funktionsstörung zugesprochen wird.

Die Beispiele stammen aus den Begutachtungsrichtlinien der Versorgungsmedizin-Verordnung und der dazu ergangenen Fachliteratur. Sie sind Anhaltswerte; im Einzelfall entscheidet stets die Gesamt­bewertung aller Funktionsstörungen.

Grad der Behinderung (GdB) Typische Situation, in der dieser Wert zugesprochen wird*
20 Leichte, aber dauerhafte Beeinträchtigung: zum Beispiel geringgradige Wirbelsäulenbeschwerden mit nur gelegentlichen Schmerz­episoden oder beidseitige geringgradige Schwerhörigkeit bei 20–40 % Hörverlust.
30 Mittelgradige Einzelstörung: etwa schwere Funktions­einschränkung in einem Wirbel­säulen­abschnitt oder mittelgradige, wiederholt auftretende Depression, die Alltag und Beruf bereits deutlich beeinträchtigt.
40 Kombinierte oder ausgeprägte Einschränkungen: z. B. mittel- bis schwer­gradige Funktions­störungen in zwei Wirbel­säulen­abschnitten oder beidseitige mittelgradige Schwerhörigkeit (40–60 % Hörverlust).
50 Schwerbehinderungsschwelle: besonders schwere Wirbel­säulen­schäden (z. B. große Teile versteift) oderbeidseitige hochgradige Schwerhörigkeit (60–80 % Hörverlust) oder chronische Schmerzstörung mit anhaltend schweren Teilhabe­einschränkungen.
60 Ausgedehnte Mehrfach­schäden: z. B. Wirbel­säulen­schaden mit schwerer Belastungs­insuffizienz plusfortgeschrittener Herz- oder Lungen­funktionsminderung; häufig auch bei Diabetes mit gravierenden Organ­schäden.
70 Besonders schwere Funktionsausfälle: etwa Wirbel­säulen­schäden mit dauerhafter Geh- oder Steh­unfähigkeit ohne komplette Lähmung oder psychische Erkrankung mit schweren sozialen Anpassungs­schwierigkeiten.
80 Massive Behinderung: z. B. beidseitig an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit (80–95 % Hörverlust) oder schwerste Wirbel­säulen­schäden mit nahezu vollständiger Belastungs­unfähigkeit.
90 Nahezu völliger Funktionsverlust eines lebens­wichtigen Systems: vollständige Erblindung beider Augen oder Kombination von Taubheit und Blindheit (Taubblindheit) oder weit fortgeschrittene neuromuskuläre Erkrankung mit fast vollständigem Pflege­bedarf.
100 Höchstmöglicher GdB – umfassende Pflegebedürftigkeit: Tetraplegie nach Hals­mark­läsion, dauerhafte invasive Beatmung, weit fortgeschrittenes ALS oder schwerste Depression mit vollständiger Arbeits- und Alltags­unfähigkeit.

Gut vorbereitet zum Landratsamt

In Baden-Württemberg, wo die Versorgungsämter den Landratsämtern zugeordnet sind, beginnt das Verfahren mit einem amtlichen Vordruck. Wer aktuelle Facharzt- und Krankenhausberichte gleich beifügt, beschleunigt die Bearbeitung spürbar, wie die Verwaltung ausdrücklich empfiehlt.

Neben medizinischen Unterlagen erleichtert ein Passfoto die anschließende Ausstellung des Schwerbehindertenausweises.

Schritt für Schritt durch das Antragsverfahren

Nach Eingang des ausgefüllten Formulars fordert die Behörde ergänzende Stellungnahmen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte an. Anschließend prüft ein ärztlicher Dienst alle Befunde.

Erst wenn sämtliche Akten vorliegen, ergeht der Feststellungsbescheid mit Angabe des Gesamt-GdB und – bei Schwerbehinderten – der sogenannten Merkzeichen.

Schritt 1 – Unterlagen zusammenstellen
Sammeln Sie sämtliche aktuellen Befund-, Entlassungs- und Reha­berichte sowie Medikamenten- und Therapiepläne. Diese Unterlagen bilden die Grundlage für die ärztliche Bewertung, weil das Versorgungsamt in der Regel keine eigene Untersuchung durchführt.

Schritt 2 – Antragsformular beschaffen
Das Formular erhalten Sie beim örtlich zuständigen Versorgungs­amt beziehungsweise Landrats­amt oder online über die Service­portale der Länder. In Baden-Württemberg, Niedersachsen oder dem Saarland stehen digitale Assistenten zur Verfügung, die Sie durch die Formblätter führen.

Schritt 3 – Persönliche Angaben und Diagnosen eintragen
Tragen Sie die Diagnosen nicht nur als Schlagwörter ein, sondern schildern Sie präzise, welche Funktions­einschränkungen daraus resultieren. Fügen Sie—soweit möglich—konkrete Beispiele zur Alltagsbelastung hinzu (etwa Gehstrecken, Konzentrations­dauer, Pflegestufe).

Schritt 4 – Befunde beifügen und Passbild nicht vergessen
Reichen Sie ärztliche Unterlagen sofort mit ein; das erspart Nachfragen und verkürzt die Bearbeitungs­zeit. Wer ein Passfoto beilegt, erhält den Schwerbehindertenausweis bei einem Gesamt-GdB ≥ 50 oft ohne weiteren Termin per Post.

Schritt 5 – Antrag abgeben und Rückfragen beantworten
Senden Sie den vollständigen Antrag an das Amt. Dessen Ärztlicher Dienst fordert bei Bedarf ergänzende Auskünfte direkt bei den behandelnden Praxen an; entbinden Sie deshalb gleich im Formular alle Ärztinnen und Ärzte von der Schweigepflicht.

Schritt 6 – Feststellungsbescheid abwarten
Nach Durchsicht aller Unterlagen erlässt das Amt einen Bescheid mit dem festgestellten Gesamt-GdB und gegebenenfalls Merk­zeichen. Prüfen Sie die Entscheidung sorgfältig; ab Zustellung läuft die einmonatige Widerspruchs­frist.

So entsteht der Gesamtgrad der Behinderung

Die Einzelgrade für verschiedene Leiden werden nicht addiert, sondern nach dem Prinzip der „versorgungsmedizinischen Gesamtbetrachtung“ zusammengefasst.

Ein Beispiel zeigt das Verfahren: Führen massive Funktionsbeeinträchtigungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten zu einem Einzel-GdB von 40 und schwere psychische Dauerfolgen – etwa eine chronische Schmerzstörung – zu einem Einzel-GdB von 30, bewerten die Gutachter die wechselseitige Verstärkung beider Leiden.

Das Ergebnis kann ein Gesamt-GdB von 50 sein, der erstmals den Schwerbehindertenstatus eröffnet – ohne dass die Werte schlicht addiert würden.

Rechte ab Bescheidzustellung

Mit dem Bescheid in der Hand ist der Schwerbehindertenausweis bei der Kommune erhältlich. Er dient als Nachweis gegenüber Arbeitgebern, Finanzämtern und Verkehrsunternehmen. Wer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, hat binnen eines Monats das Recht, Widerspruch einzulegen.

Wenn der GdB-Antrag (teilweise) abgelehnt wird

Fällt der Bescheid niedriger aus als beantragt oder wird der GdB ganz versagt, haben Betroffene genau einen Monat Zeit, schriftlich Widerspruch einzulegen (§ 84 SGG). Ein formloser, fristwahrender Widerspruch genügt zunächst; die ausführliche Begründung kann nachgereicht werden.

Fordern Sie dafür die vollständige Verwaltungsakte an, prüfen Sie, ob alle Befunde berücksichtigt wurden, und legen Sie neue Gutachten oder Arztberichte bei. Kommt es auch im Widerspruchs­verfahren zu keiner Einigung, steht der Klageweg zum Sozial­gericht offen—gerichtliche Verfahren sind in der Regel gerichtskostenfrei.

Beratung sichert Ansprüche

Für viele Antragstellende ist eine fachkundige Begleitung sinnvoll. Sozialverbände wie der VdK unterstützen bei der Auswahl relevanter Befunde, kontrollieren Fristen und vertreten Betroffene notfalls vor Gericht. Der Verband empfiehlt, alle Krankenhaus- und Reha-Entlassungsberichte zum Beratungstermin mitzubringen, damit ein Antrag sofort ausgefüllt und weitergeleitet werden kann.

Fazit

Ein korrekt vorbereiteter Erstantrag ist der Schlüssel zu einem fairen GdB-Bescheid. Wer seine Funktionsstörungen detailliert nachweist, vermeidet unnötige Verzögerungen und Rechtsstreitigkeiten.

Obwohl der Prozess formal wirkt, geht es letztlich um Lebensqualität und soziale Teilhabe. Ein bewusster, gut informierter Umgang mit den eigenen Rechten verwandelt den bürokratischen Weg in eine realistische Chance für mehr gesellschaftliche Teilhabe.