EM-Rente: Alte Renten bleiben trotz Zuschlag unfair

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Zwei Menschen, beide schwer krank, beide nur noch wenige Stunden am Tag arbeitsfรคhig, beide auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen โ€“ und trotzdem trennt sie Monat fรผr Monat ein dreistelliger Betrag auf dem Konto. Der Unterschied liegt nicht in der Diagnose und nicht in der Anzahl der Beitragsjahre, sondern in einem Datum auf dem Rentenbescheid: dem Rentenbeginn.

Wer Pech hatte und vor bestimmten Stichtagen in die Erwerbsminderungsrente gerutscht ist, erhรคlt bis heute oft deutlich weniger Geld als vergleichbare Neufรคlle, obwohl die gesundheitliche Situation und die Erwerbsbiografie nahezu identisch sein kรถnnen.

Diese unsichtbare Ungleichheit betrifft Zehntausende Bestandsrentnerinnen und -rentner. Sie erleben tagtรคglich, dass sie mit ihrer Rente kaum รผber die Runden kommen, wissen aber hรคufig nicht, dass Menschen mit derselben Krankengeschichte, deren Rente wenige Tage oder Monate spรคter beginnt, deutlich besser gestellt sind.

Stichtage entscheiden รผber hundert Euro im Monat

รœber viele Jahre wurde bei Erwerbsminderungsrenten nur so gerechnet, als ob Beitrรคge bis zum 60. Lebensjahr gezahlt wรผrden. Fรผr Menschen, die mit Mitte fรผnfzig aus dem Berufsleben genommen wurden, war das ein massiver Nachteil. Ab 2014 hat der Gesetzgeber die Zurechnungszeit schrittweise verlรคngert, zunรคchst auf 62 Jahre, spรคter weiter in Richtung 67.

Entscheidend ist: Jede Verbesserung galt nur fรผr neue Rentenzugรคnge ab einem bestimmten Stichtag. Wer seine Erwerbsminderungsrente wenige Monate frรผher bewilligt bekam, blieb dauerhaft im alten, schlechteren System. In der Praxis fรผhrt das dazu, dass der Rentenbeginn โ€“ also ein Datum, auf das Betroffene keinen Einfluss haben โ€“ zu einem harten Schnitt in der Lebensrealitรคt wird.

Fachliche Berechnungen zeigen, dass allein die unterschiedlichen Zurechnungszeiten Unterschiede von hundert Euro und mehr im Monat erzeugen kรถnnen, obwohl die Versicherten รคhnlich lange gearbeitet und vergleichbar verdient haben.

Bestandsrentner bleiben lange auรŸen vor

Als Bestandsrentner gelten in diesem Zusammenhang Menschen, deren Erwerbsminderungsrente bereits vor 2019 begonnen hat. Diese Gruppe profitierte zunรคchst รผberhaupt nicht von den Verbesserungen bei der Zurechnungszeit.

Wรคhrend Neurentner seit 2019 so behandelt werden, als hรคtten sie deutlich lรคnger Beitrรคge gezahlt, bleiben die frรผher in Erwerbsminderungsrente gegangenen Versicherten im alten Stand eingefroren.

Betroffen sind Hunderttausende, die teilweise seit vielen Jahren mit einer Rente knapp รผber oder sogar unter der Grundsicherung leben. Sie haben ihre Erwerbsfรคhigkeit meist in belastenden Branchen verloren, waren hรคufig schon durch Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Niedriglรถhne benachteiligt und mussten dann erleben, dass spรคtere Jahrgรคnge mit vergleichbarem Schicksal besser abgesichert sind, nur weil sie in eine andere Reformphase gefallen sind.

Karlsruhe und die Frage nach der Gerechtigkeit

Sozialverbรคnde und Betroffene sahen in dieser Stichtagsregelung einen Bruch mit dem Gleichheitsgrundsatz. Sie argumentierten, dass es keinen sachlichen Grund gibt, kranke Menschen mit gleicher Erwerbsbiografie allein aufgrund des Rentenbeginns so unterschiedlich zu behandeln. Mehrere Verfahren landeten schlieรŸlich beim Bundessozialgericht und anschlieรŸend beim Bundesverfassungsgericht.

Das Bundessozialgericht entschied, dass der Gesetzgeber Verbesserungen sehr wohl nur fรผr Neurentner einfรผhren dรผrfe. Stichtage seien ein zulรคssiges Instrument, um Reformen abzugrenzen. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an und beanstandete die Regelung damit nicht.

Juristisch ist die Stichtagslogik damit derzeit abgesichert, politisch und sozial bleibt sie dennoch hoch umstritten, weil sie eine spรผrbare Ungleichheit innerhalb einer besonders verletzlichen Gruppe verfestigt.

Rentenzuschlag fรผr Bestandsrentner โ€“ Korrektur oder nur Trostpflaster?

Nach massiver Kritik und politischem Druck reagierte der Gesetzgeber mit einem besonderen Zuschlag fรผr Bestandsrentnerinnen und -rentner. Seit Mitte 2024 erhalten EM-Rentner, deren Rente zwischen 2001 und Ende 2018 begonnen hat, einen pauschalen Aufschlag. Wer besonders frรผh in Rente musste, erhรคlt einen hรถheren Prozentsatz, wer spรคter berentet wurde, einen geringeren.

Der Zuschlag wird nach und nach in die laufende Rentenzahlung integriert und wirkt auch in spรคteren Alters- oder Hinterbliebenenrenten weiter, wenn diese auf der ursprรผnglichen Erwerbsminderungsrente beruhen.

Fรผr viele Menschen bedeutet das spรผrbar mehr Geld, und aus Sicht vieler Betroffener war diese Korrektur lรคngst รผberfรคllig. Gleichzeitig bleibt die grundsรคtzliche Ungleichheit bestehen. Der Zuschlag orientiert sich nicht exakt an der tatsรคchlichen Differenz zur jeweils vergleichbaren Neurente, sondern arbeitet mit pauschalen Prozentwerten.

In etlichen Fรคllen bringt er zwar eine Entlastung, schlieรŸt aber die Lรผcke zu einem heute neu bewilligten Fall nicht vollstรคndig.

Wenn die Grundsicherung den Zuschlag wieder auffrisst

Besonders problematisch ist die Situation fรผr diejenigen, die mit ihrer Erwerbsminderungsrente bereits so niedrig liegen, dass sie zusรคtzlich Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder andere Sozialleistungen beziehen. Fรผr sie wird die Rente einschlieรŸlich des Zuschlags in der Regel als Einkommen angerechnet. Nur soweit Freibetrรคge greifen, bleibt ein kleiner Teil anrechnungsfrei.

In der Praxis bedeutet das: Der neue Zuschlag taucht zwar im Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung auf, kann aber beim Sozialamt oder Jobcenter direkt mit der Grundsicherung verrechnet werden. รœbrig bleibt dann hรคufig nur ein sehr kleiner Vorteil oder gar nichts.

Gerade die รคrmsten Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner erleben, dass die politisch verkรผndete Verbesserung bei ihnen kaum ankommt. Die Ungleichheit zwischen รคlteren und neueren Erwerbsminderungsrenten wird damit nicht nur konserviert, sondern faktisch verschleiert.

Was Betroffene jetzt konkret tun kรถnnen

Auch wenn die grundlegende Stichtagsregelung politisch und rechtlich derzeit nicht aufgehoben ist, lohnt sich fรผr Betroffene ein genauer Blick in die eigenen Unterlagen. Zunรคchst sollte geprรผft werden, ob der Rentenbescheid alle Versicherungszeiten vollstรคndig berรผcksichtigt und ob der Zuschlag seit seiner Einfรผhrung tatsรคchlich in der ausgewiesenen Hรถhe gezahlt wird. Fehler bei der Umsetzung oder รœbertragungsprobleme sind nicht ausgeschlossen.

Wer zusรคtzlich Grundsicherung oder ergรคnzende Leistungen bezieht, sollte die Bescheide der Sozialรคmter und Jobcenter ebenfalls sehr sorgfรคltig prรผfen lassen. Entscheidend ist, ob Freibetrรคge korrekt angewendet wurden und ob die Anrechnung der Rente nachvollziehbar ist.

Unterstรผtzung bieten Sozialberatungsstellen, Erwerbsloseninitiativen, Rentenberater sowie Sozialverbรคnde. Sie kรถnnen auch einschรคtzen, ob sich ein รœberprรผfungsantrag oder Widerspruch im Einzelfall lohnt und welche Fristen dabei zu beachten sind.