Von โDoppelbesteuerung der Renteโ ist die Rede, wenn Rentnerinnen und Rentner ihre Beitrรคge zur Altersvorsorge bereits aus versteuertem Einkommen geleistet haben und spรคter noch einmal einen zu hohen Teil ihrer Rentenzahlungen versteuern mรผssen.
Rentenrechtlich verboten ist dies seit Jahren: Sowohl Bundesverfassungsgericht als auch Bundesfinanzhof verlangen, dass in jedem Einzelfall sichergestellt wird, dass die steuerfrei bleibenden Rentenbetrรคge mindestens so hoch sind wie die aus versteuertem Einkommen aufgebrachten Beitrรคge.
Inhaltsverzeichnis
Der Systemwechsel und seine verfassungsrechtliche Vorgeschichte
Auslรถser des aktuellen Besteuerungssystems war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Mรคrz 2002. Es erklรคrte die unterschiedliche Behandlung von Beamtenpensionen und gesetzlichen Renten fรผr verfassungswidrig und forderte eine einheitliche, โnachgelagerteโ Besteuerung.
Der Gesetzgeber reagierte mit dem Alterseinkรผnftegesetz (AltEinkG), das seit 2005 gilt: Beitrรคge sollten zunehmend abzugsfรคhig werden, Renten im Gegenzug schrittweise stรคrker besteuert.
Wer 2005 oder frรผher in Rente ging, versteuert seither nur 50 Prozent seiner Rente; der nicht besteuerte Anteil wird als individueller Rentenfreibetrag festgeschrieben.
Leitentscheidungen von BFH und BVerfG: Wie โkeine Doppelbesteuerungโ konkret gemessen wird
Am 19. Mai 2021 legte der Bundesfinanzhof in zwei Urteilen (X R 20/19 und X R 33/19) erstmals detailliert fest, wie eine Vergleichsrechnung auszusehen hat.
Danach liegt keine Doppelbesteuerung vor, wenn die Summe der voraussichtlich steuerfrei bleibenden Rentenzuflรผsse mindestens so hoch ist wie die Summe der aus versteuertem Einkommen gezahlten Vorsorgeaufwendungen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Linie seither mehrfach bestรคtigt und Verfassungsbeschwerden nicht angenommen.
Die BFH-Rechenlogik: Was gezรคhlt wird โ und was ausdrรผcklich nicht
In die Summe der steuerfrei bleibenden Rentenzuflรผsse flieรen nach der BFH-Rechtsprechung nur der persรถnliche Rentenfreibetrag sowie โ falls vorhanden โ der steuerfreie Teil einer Witwenrente ein. Grundfreibetrag, Sonderausgaben-Pauschbetrag oder vom Rentenversicherungstrรคger รผbernommene Krankenversicherungsbeitrรคge mindern die Vergleichssumme nicht.
Auf der Beitragsseite zรคhlen hingegen nur jene Anteile, die tatsรคchlich aus versteuertem Einkommen stammen. Fรผr Prognosen zur Lebenserwartung sind die amtlichen Sterbetafeln maรgeblich.
Gesetzgeberische Reaktionen: Voller Sonderausgabenabzug und langsamere Besteuerungsanstiege
Um die Gefahr einer Doppelbesteuerung zu verringern, hat die Ampelkoalition zwei zentrale Stellschrauben gedreht.
Mit dem Jahressteuergesetz 2022 wurde der vollstรคndige Abzug der Altersvorsorgeaufwendungen bereits ab 2023 ermรถglicht, zwei Jahre frรผher als ursprรผnglich geplant.
Zudem entschied der Gesetzgeber im Wachstumschancengesetz, das am 22. Mรคrz 2024 im Bundesrat bestรคtigt wurde, dass der Besteuerungsanteil fรผr Neurentnerjahrgรคnge seit 2023 nur noch um 0,5 statt um 1,0 Prozentpunkte steigt. Die 100-Prozent-Besteuerung wird dadurch erst 2058 erreicht.
Die aktuelle Tabelle: Besteuerungsanteil und Rentenfreibetrag nach Rentenbeginnjahr
Die folgende รbersicht zeigt, wie hoch der steuerpflichtige Anteil der Rente (Besteuerungsanteil) beim Rentenbeginn in einem bestimmten Jahr ist. Der verbleibende Prozentsatz bildet den dauerhaft festgeschriebenen Rentenfreibetrag.
Grundlage sind die Regelungen des Alterseinkรผnftegesetzes sowie die durch das Wachstumschancengesetz geรคnderten Steigerungsraten.
Rentenbeginnjahr | Besteuerungsanteil in % | Steuerfreier Rentenanteil in % |
2005 | 50,0 | 50,0 |
2006 | 52,0 | 48,0 |
2007 | 54,0 | 46,0 |
2008 | 56,0 | 44,0 |
2009 | 58,0 | 42,0 |
2010 | 60,0 | 40,0 |
2011 | 62,0 | 38,0 |
2012 | 64,0 | 36,0 |
2013 | 66,0 | 34,0 |
2014 | 68,0 | 32,0 |
2015 | 70,0 | 30,0 |
2016 | 72,0 | 28,0 |
2017 | 74,0 | 26,0 |
2018 | 76,0 | 24,0 |
2019 | 78,0 | 22,0 |
2020 | 80,0 | 20,0 |
2021 | 81,0 | 19,0 |
2022 | 82,0 | 18,0 |
2023 | 82,5 | 17,5 |
2024 | 83,0 | 17,0 |
2025 | 83,5 | 16,5 |
2026 | 84,0 | 16,0 |
2027 | 84,5 | 15,5 |
2028 | 85,0 | 15,0 |
2029 | 85,5 | 14,5 |
2030 | 86,0 | 14,0 |
2031 | 86,5 | 13,5 |
2032 | 87,0 | 13,0 |
2033 | 87,5 | 12,5 |
2034 | 88,0 | 12,0 |
2035 | 88,5 | 11,5 |
2036 | 89,0 | 11,0 |
2037 | 89,5 | 10,5 |
2038 | 90,0 | 10,0 |
2039 | 90,5 | 9,5 |
2040 | 91,0 | 9,0 |
2041 | 91,5 | 8,5 |
2042 | 92,0 | 8,0 |
2043 | 92,5 | 7,5 |
2044 | 93,0 | 7,0 |
2045 | 93,5 | 6,5 |
2046 | 94,0 | 6,0 |
2047 | 94,5 | 5,5 |
2048 | 95,0 | 5,0 |
2049 | 95,5 | 4,5 |
2050 | 96,0 | 4,0 |
2051 | 96,5 | 3,5 |
2052 | 97,0 | 3,0 |
2053 | 97,5 | 2,5 |
2054 | 98,0 | 2,0 |
2055 | 98,5 | 1,5 |
2056 | 99,0 | 1,0 |
2057 | 99,5 | 0,5 |
2058 | 100,0 | 0,0 |
Die Werte bis 2022 beruhen auf dem AltEinkG, die Werte ab 2023 berรผcksichtigen die Halb-Prozent-Schritte aus dem Wachstumschancengesetz.
Wie die Tabelle zu lesen ist โ und wo ihre Grenzen liegen
Der in der Tabelle ausgewiesene Besteuerungsanteil gilt lebenslang, er verรคndert sich nach dem Renteneintritt nicht mehr. Der einmal festgesetzte Rentenfreibetrag bleibt in Euro fixiert, selbst wenn die Rente spรคter steigt.
Ob tatsรคchlich Einkommensteuer anfรคllt, hรคngt aber von vielen weiteren Faktoren ab, etwa dem Grundfreibetrag, zusรคtzlichen Einkรผnften oder Sonderausgaben.
Eine BMF-Broschรผre zeigt jรคhrlich, bis zu welchen Bruttorenten Alleinstehende ohne weitere Einkรผnfte steuerfrei bleiben kรถnnen; diese Orientierungswerte ersetzen jedoch keine individuelle Berechnung.
Praktische Konsequenzen: Prรผfen, rechnen, dokumentieren
Wer vermutet, von Doppelbesteuerung betroffen zu sein, sollte seine geleisteten Beitrรคge und die steuerfreien Rentenanteile dokumentieren und die Vergleichsrechnung nach den BFH-Vorgaben durchfรผhren. Im Zweifel empfiehlt sich ein Einspruch gegen den Steuerbescheid unter Verweis auf die einschlรคgige Rechtsprechung.
Die vollstรคndige Abziehbarkeit der Altersvorsorgeaufwendungen seit 2023 und der langsamere Anstieg des Besteuerungsanteils reduzieren das Risiko, lรถsen es aber nicht in jedem Einzelfall.
Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine steuerliche Beratung. Fรผr individuelle Fรคlle sollten Sie Steuerbescheide, eigene Beitragsverlรคufe und gegebenenfalls fachkundigen Rat heranziehen.