Das Ordnungsamt führt Bürgergeld-Bezieher zum Ein-Euro-Job ab

Lesedauer 3 Minuten

Mitten in Nordhausen stehen morgens kurz nach sieben Uhr Vertreter eines Trägers und Mitarbeiter des Ordnungsamts vor der Wohnung junger Bürgergeld-Beziehender, um sie zum Antritt eines Ein-Euro-Jobs zu bewegen.

Was als „pädagogische Unterstützung“ verkauft wird, wirkt wie der Probelauf für etwas anderes: Mit der Polizei zum Ein-Euro-Job. Ein Sozialleistungssystem, der nicht mehr fördert, sondern klingelt.

Nordhausen als Versuchsfeld für Zwang per Haustür

Im Landkreis Nordhausen werden junge Bürgergeld-Beziehende unter 25, ohne abgeschlossene Ausbildung, in „Arbeitsgelegenheiten“ gedrängt: bis zu 40 Wochenstunden, 1,20 Euro pro Stunde zusätzlich zum Bürgergeld. Wer nicht erscheint, bekommt Besuch. Wer die Tür nicht öffnet, riskiert Vorladungen und Leistungskürzungen.

Öffentlich verteidigt der SPD-Landrat das Modell mit Formeln von „Faulenzern“ und „klarem Durchgreifen“. Das Projekt knüpft an die seit 2024 verschärften Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit zu Ein-Euro-Jobs an, die ihren Einsatz auch bei wiederholter Verweigerung anderer Maßnahmen vorsehen.

Die Botschaft an junge Leistungsberechtigte lautet: Nicht Mitwirkung zuerst, nicht Förderung zuerst – sondern Gehorsam. Der Ein-Euro-Job als Drohkulisse, verstärkt durch das Auftreten hoheitlicher Akteure an der Wohnungstür.

Von der Fördermaßnahme zur Strafe durch Arbeit

Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II waren ursprünglich als ultima ratio gedacht: zusätzlich, gemeinnützig, befristet, mit enger Zielgruppe für Menschen, die besondere Unterstützung brauchen.

Mit der Weisungspraxis der Bundesagentur für Arbeit seit Oktober 2024 wurde eine Verschiebung eingeleitet: Ein-Euro-Jobs können nun gezielt bei Maßnahme- und Teilnahmeverweigerung eingesetzt werden.

Damit wird aus einem Förderinstrument faktisch ein Sanktionsinstrument. Wer Einladungen ignoriert, Maßnahmen ablehnt oder als „unkooperativ“ gilt, kann in Tätigkeiten gedrängt werden, die keinerlei echte Perspektive eröffnen, aber als Pflicht inszeniert werden.

In Nordhausen wird genau diese Logik praktisch durchgespielt – flankiert von einem Kommunikationsstil, der junge Menschen öffentlich herabsetzt.

Mit der Polizei zum Ein-Euro-Job – ein gefährliches Signal

Ob Ordnungsamt, Außendienst des Jobcenters oder später vielleicht tatsächlich Polizeibegleitung: Die symbolische Linie ist klar. Wer Bürgergeld bezieht, soll erleben, dass der Staat bis an die Wohnungsschwelle vorrückt. Das erinnert an Ordnungspolitik, nicht an Sozialstaat.

Rechtlich bewegen sich solche „Klingelaktionen“ auf dünnem Eis: Niemand ist verpflichtet, morgens Behördenmitarbeitende in die Wohnung zu lassen; Sanktionen dürfen nicht auf bloßem Nicht-Öffnen der Tür beruhen, sondern benötigen eine tragfähige Zuweisung, Anhörung und eine klare Rechtsfolgenbelehrung. Doch die Inszenierung erzeugt Einschüchterung – und genau darauf zielt sie ab.

Verfassungsrechtliche Reibung: Arbeitspflicht durch die Hintertür?

Eine allgemeine Arbeitspflicht für Erwerbslose wäre mit Verfassung und Völkerrecht unvereinbar. Zulässig sind Mitwirkungspflichten, zumutbare Angebote, begrenzte Leistungsminderungen – aber keine faktische Zwangsarbeit. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2019 klargestellt, dass Sanktionen Grenzen haben, die Menschenwürde und das Existenzminimum schützen müssen.

Wenn Ein-Euro-Jobs als Strafe für „Ungehorsam“ eingesetzt werden, verkehrt sich der Sinn der Maßnahme: Statt Unterstützung für besonders Benachteiligte wird ein Repressionswerkzeug geschaffen, das Leistungsberechtigte zur abschreckenden Beispielgruppe macht.

Ist Ihr Bürgergeld-Bescheid korrekt?

Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.

Bescheid prüfen

Wo der Staat Arbeit nicht mehr ermöglicht, sondern erzwingt, wird aus dem Grundrecht auf Unterstützung ein Kontrollregime.

Ressourcen für Kontrolle statt für Perspektiven

Kritik kommt nicht nur von Sozialverbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Vertreter von Jobcentern weisen seit Langem darauf hin, dass Arbeitsgelegenheiten teuer sind, Personal binden und nur begrenzt in reguläre Beschäftigung führen.

Wenn diese Plätze nun bevorzugt für eine kleine Gruppe „Unwilliger“ reserviert werden, fehlen sie jenen, die freiwillig Stabilität, Tagesstruktur und Qualifizierung suchen.

In Nordhausen werden zusätzliche Mittel und Personal eingesetzt, um junge Menschen morgens aus dem Bett zu klingeln, statt ihnen echte Ausbildungspfade, Coaching, Schulabschlüsse oder psychologische Unterstützung zu eröffnen. Qualifizierung, Betreuung, Wohnungssicherung, Gesundheitsangebote – all das bleibt im Schatten einer Kampagne, die vorrangig Stärke demonstrieren soll.

Trend zur Arbeitspflicht: Nordhausen ist kein Einzelfall

Kommunen wie Essen diskutieren ähnliche Modelle einer Arbeitspflicht für bestimmte Gruppen von Bürgergeld-Beziehenden. Parallel steigen bundesweit die Leistungsminderungen im Bürgergeld wieder an.

Nordhausen wird damit zum Symbolfall: Wenn ein Landrat mit „Faulenzer“-Rhetorik und Ein-Euro-Zwang bundesweite Aufmerksamkeit erhält, wächst der Druck auf andere Kommunen, nachzuziehen – nicht mit besseren Angeboten, sondern mit härteren Maßnahmen. Die Grenze zwischen legitimer Mitwirkungspflicht und unzulässiger Zwangsarbeit droht zu verwischen.

Was Betroffene in solchen Modellen unbedingt prüfen sollten

Wer in eine Arbeitsgelegenheit gedrängt wird, sollte genau hinschauen, ob die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Tätigkeit muss im öffentlichen Interesse liegen, „zusätzlich“ sein, also keine regulären Jobs ersetzen, und auf einer nachvollziehbaren, individuellen Eingliederungsstrategie beruhen. Zuweisungen müssen schriftlich, bestimmt und mit korrekter Rechtsfolgenbelehrung erfolgen. Fehlt es daran, sind Widerspruch und einstweiliger Rechtsschutz möglich.

Gleichzeitig ist wichtig: Nicht-Teilnahme ohne Reaktion auf Post und Termine kann zu Leistungskürzungen führen. Betroffene sollten deshalb frühzeitig Beratung nutzen – bei Sozialberatungen, Erwerbsloseninitiativen, Fachanwält:innen für Sozialrecht –, statt sich isoliert unter Druck setzen zu lassen.

Einschüchternde Haustürbesuche verändern nichts an den gesetzlichen Anforderungen, die das Jobcenter einhalten muss.

Mit der Polizei zum Ein-Euro-Job? Ein Warnsignal für den Sozialstaat

Nordhausen zeigt, wie schnell ein Sozialstaat kippen kann, wenn politischer Druck, kurzfristige Schlagzeilen und Ressentiments gegenüber Armen wichtiger werden als Rechtsstaatlichkeit, Würde und echte Chancen. Ein-Euro-Jobs als De-facto-Strafe, begleitet von morgendlichen Kontrollen, sind nicht der Weg in stabile Beschäftigung, sondern in ein Klima der Angst.

Die zentrale Frage lautet nicht: „Wie holen wir junge Menschen mit Polizeibegleitung in den Ein-Euro-Job?“, sondern: „Warum gelingt es Politik und Verwaltung nicht, Ausbildung, Qualifizierung und faire Arbeit so attraktiv zu machen, dass Zwang überflüssig ist?“

Nordhausen ist kein Randphänomen, sondern dient als Testballon. Ob daraus ein dauerhaftes Modell wird, hängt davon ab, ob Öffentlichkeit und Gerichte akzeptieren, dass man Menschen im Grundsicherungssystem künftig mit dem Mittel des staatlichen Aufmarschs vor der Wohnungstür zur Billigarbeit treibt.