Bürgergeld: Jobcenter zahlt einfach den Mehrbedarf nicht

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Ein Video auf Youtube bei “Jobcenteracademy” schildert ein Problem, das viele Bürgergeld-Beziehende kennen: Der Mehrbedarf für Menschen mit Behinderungen wurde beantragt, doch das Jobcenter reagiert seit Monaten nicht.

Nach eigener Darstellung liegen die Voraussetzungen vor, weil während einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben eine behinderungsbedingte Mehrbelastung entsteht.

Muss man diesen Mehrbedarf überhaupt gesondert beantragen? Und was tun, wenn der Träger untätig bleibt? Das wollen wir einmal beantworten!

Die Rechtslage: 35 Prozent Mehrbedarf bei Teilhabeleistungen

Der Gesetzestext ist eindeutig: Erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit Behinderung Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 49 SGB IX (mit bestimmten Ausnahmen) oder sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 112 SGB IX, wird ein Mehrbedarf von 35 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs anerkannt.

Dieser Mehrbedarf kann auch nach Ende der Maßnahme für eine angemessene Übergangszeit, insbesondere während einer Einarbeitungszeit, weitergezahlt werden.

Wichtig ist dabei eine Präzisierung: Das Gesetz fordert keine „Vollzeitmaßnahme“. Entscheidend ist, dass tatsächlich Leistungen zur Teilhabe oder entsprechende Hilfen erbracht werden; die pauschale Voraussetzung „Vollzeit“ findet sich im Gesetz nicht.

Kein gesonderter Extra-Antrag für den Mehrbedarf

Die Bundesagentur für Arbeit stellt in ihren Fachlichen Weisungen klar: Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst die passiven Leistungen des SGB II – dazu gehören die Mehrbedarfe. Leistungen für Mehrbedarfe müssen nicht gesondert beantragt werden, auch wenn die Voraussetzungen erst während des laufenden Leistungsbezugs entstehen.

Mehrbedarfe sind taggenau zu berücksichtigen. Praktisch bedeutet das: Stellt sich während des Bezugs heraus, dass die Voraussetzungen des § 21 Abs. 4 SGB II erfüllt sind, muss das Jobcenter von sich aus anpassen.

Parallel gilt jedoch: Der Auslöser für den Mehrbedarf ist die tatsächliche

Erbringung einer Reha-/Teilhabeleistung. Dazu heißt es ausdrücklich, dass die Leistungen tatsächlich durchgeführt werden müssen; eine bloße allgemeine Eignung oder nur eine Bewilligung ohne Durchführung genügt nicht. Als Nachweis reicht üblicherweise ein aktueller Bewilligungsbescheid des zuständigen Rehabilitationsträgers (oder die interne Dokumentation, wenn die BA selbst rehabilitationsrechtlich zuständig ist).

Wer ist der „zuständige Träger“ – und warum taucht er in den Weisungen auf?

Die Verwirrung aus dem Video rührt daher, dass die Weisungen zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Den Mehrbedarf zahlt das Jobcenter im Rahmen des SGB II. Die Leistungen zur Teilhabe selbst werden aber von einem Rehabilitationsträger nach SGB IX erbracht (z. B. Deutsche Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit in ihrer Reha-Zuständigkeit, gesetzliche Unfallversicherung, Kranken- oder Sozialhilfeträger).

Ob und welche LTA bewilligt werden, richtet sich nach SGB IX; der Bewilligungsbescheid dieses Trägers ist dann der Anknüpfungspunkt, der den 35-Prozent-Mehrbedarf im SGB-II auslöst.

Deshalb verweisen die Weisungen auf eine „gegebenenfalls erforderliche Antragstellung beim zuständigen Träger“ – gemeint ist der Antrag auf Teilhabeleistungen, nicht ein Extra-Antrag auf Mehrbedarf beim Jobcenter.

Welche Nachweise typischerweise ziehen

In der Praxis verlangen Jobcenter einen Bewilligungsbescheid des Reha-Trägers (DRV, BA-Reha, Unfallversicherung, Eingliederungshilfe) oder eine gleichwertige interne Dokumentation, wenn die BA selbst Rehaträger ist.

Hinzu kommt häufig eine Teilnahme- oder Maßnahmebestätigung des Trägers bzw. Bildungsträgers, aus der Beginn, Art und Umfang der Leistung hervorgehen. Weil die Weisungen die tatsächliche Durchführung verlangen, sind bloße Planungen ohne realen Maßnahmenbeginn nicht ausreichend.

Wenn das Jobcenter schweigt: Schriftliches mit Nachweis

Nicht jeder fehlende Bescheid ist böser Wille. Unterlagen gehen verloren, Zuordnungen misslingen. Deshalb empfiehlt sich eine gerichtsfeste Kontaktaufnahme mit der Leistungsabteilung: per persönlicher Abgabe gegen Eingangsbestätigung, per Upload über jobcenter.digital mit Sendebestätigung im elektronischen Postfach, per Einschreiben oder vorab per Fax mit qualifiziertem Sendebericht (als Indiz).

Der Online-Weg über jobcenter.digital hat den Vorteil, dass der Nachweis über übermittelte Nachrichten und Unterlagen im Benutzerkonto gespeichert wird.

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Recht auf Entscheidung: Untätigkeit beenden

Bleibt ein Antrag liegen, sieht das Sozialgerichtsgesetz nach sechs Monaten die Untätigkeitsklage vor; bei ausstehendem Widerspruchsbescheid beträgt die Frist drei Monate.

Parallel kann – bei existenzsichernden Ansprüchen – in dringenden Fällen eine einstweilige Anordnung beantragt werden, wenn Anordnungsanspruch (rechtlicher Anspruch, hier: § 21 Abs. 4 SGB II) und Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) glaubhaft gemacht werden.

In der Praxis ist es sinnvoll, das Jobcenter vorher schriftlich an die Entscheidung zu erinnern und eine kurze Frist zu setzen; die Eilbedürftigkeit steigt mit jeder Verzögerung, insbesondere wenn laufende Bedarfe nicht gedeckt sind.

Widerspruch, Eilverfahren oder Fachaufsicht – was passt wann?

Liegt kein Bescheid vor, kann man zunächst keine inhaltliche Entscheidung angreifen – dann geht es um Untätigkeit oder Eilrechtsschutz. Ergeht schließlich ein (ablehnender) Bescheid, ist der Widerspruch der nächste Schritt. In organisatorisch verfahrenen Fällen hilft oft eine Fachaufsichtsbeschwerde bei der zuständigen Regionaldirektion oder ein gut dokumentierter Sachstandsbrief an die Leistungsabteilung.

In akut prekären Situationen ist der Gang zum Sozialgericht im Eilverfahren vielfach der schnellste Weg zu einer vorläufigen Regelung.

Die Gerichte verlangen in der Regel, dass man sich zuvor an die Verwaltung gewandt und eine angemessene Bearbeitungszeit abgewartet hat; bei existenzieller Not kann Eilrechtsschutz dennoch früher geboten sein.

Rückwirkende Zahlungen sichern: Überprüfungsantrag

Wird der Mehrbedarf verspätet berücksichtigt oder zu Unrecht abgelehnt, kommt für bereits bestandskräftige Zeiträume der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X in Betracht. Im SGB-II ist die Nachzahlung – abweichend von der allgemeinen Vierjahresfrist – regelmäßig auf ein Jahr vor Antragstellung begrenzt (§ 40 SGB II i. V. m. § 44 SGB X).

Es lohnt daher, frühzeitig zu handeln und die Zeiträume sauber zu beziffern. Für laufende Bewilligungsabschnitte kann das Jobcenter die Leistungen ohne Überprüfungsantrag korrigieren; maßgeblich ist, ab wann die Voraussetzungen nachweislich vorlagen, zumal Mehrbedarfe taggenau zu berücksichtigen sind.

Praktisches Vorgehen in der Sache „Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4“

Zunächst sollte die Sachlage geschlossen dokumentiert werden: Bewilligungsbescheid des Rehaträgers, Teilnahmebestätigung, Beginn- und Verlaufsdaten der Maßnahme, Nachweis der bereits erfolgten Übermittlung an das Jobcenter. Anschließend empfiehlt sich eine kurze, bestimmte Sachstandsanfrage an die Leistungsabteilung – nicht an den allgemeinen Telefondienst – mit Fristsetzung von etwa 7 bis 14 Tagen und Hinweis auf die Rechtslage (kein gesonderter Antrag nötig; taggenaue Berücksichtigung; 35 Prozent nach § 21 Abs. 4; Fachliche Weisungen).

Erfolgt weiterhin keine Reaktion, stehen Eilrechtsschutz und/oder Untätigkeitsklage zur Verfügung. In strittigen Konstellationen ist eine anwaltliche Beratung über Beratungshilfe sinnvoll; sie erleichtert die Glaubhaftmachung gegenüber dem Sozialgericht und bündelt die Unterlagen.

Häufige Missverständnisse – kurz geklärt

Der Mehrbedarf hängt nicht von einer „Vollzeitmaßnahme“ ab, sondern von der tatsächlichen Durchführung rehabilitationsrechtlicher Leistungen. Der Mehrbedarf ist kein Ermessensbonus, sondern ein gebundener Anspruch, sobald die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.

Und: Auch wenn der Mehrbedarf grundsätzlich ohne Extra-Antrag zu berücksichtigen ist, schadet ein ausdrücklich gestellter Antrag natürlich nicht – er schafft Klarheit und Fristen, an denen sich Untätigkeits- und Eilrechtsschutz ausrichten lassen.

Nachweis- und Kommunikationswege, die tragen

Für die Kommunikation gilt: jobcenter.digital samt Postfach- und Upload-Funktion liefert eine elektronische Sendebestätigung im Konto und ist damit ein sehr belastbarer Nachweis. Persönliche Abgabe gegen Eingangsbestätigung ist ebenfalls robust. Fax-Sendeprotokolle sind in der Sozialgerichtsbarkeit ein Indiz, ersetzen aber nicht in jedem Fall den sicheren Zugangsnachweis. Elektronische Kommunikation ist zudem gesetzlich vorgesehen, wenn die Behörde den Zugang eröffnet (§ 36a SGB I).

Ergebnis

Wer Leistungen zur Teilhabe oder Eingliederungshilfe tatsächlich erhält, hat regelmäßig Anspruch auf den Mehrbedarf von 35 Prozent nach § 21 Abs. 4 SGB II – ohne dass dafür ein separater Antrag gestellt werden müsste. Kommt das Jobcenter seiner Pflicht nicht nach, helfen eine nachweisbare Sachstandsanfrage mit Frist, die Einschaltung der Fachaufsicht, notfalls der Eilrechtsschutz und, bei langem Stillstand, die Untätigkeitsklage.

Für bereits vergangene, bestandskräftige Zeiträume sichert ein Überprüfungsantrag mögliche Nachzahlungen, allerdings im SGB-II mit einer Ein-Jahres-Grenze. Wer seine Kommunikation sauber dokumentiert und die einschlägigen Nachweise früh beifügt, verkürzt das Verfahren und erhöht die Chancen auf eine zügige Anerkennung.