Pflegegeld: Pflegekassen verschicken Briefe und drohen mit Kürzung

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Der Brief ist knapp formuliert, die Wirkung trotzdem deutlich: „Bitte weisen Sie den Beratungseinsatz nach – andernfalls kann das Pflegegeld gekürzt oder eingestellt werden.“

Für viele Pflegebedürftige und Angehörige ist das ein Schockmoment. Die Versorgung läuft seit Jahren stabil, organisiert wird alles zu Hause, ein Pflegedienst ist nicht eingebunden – und plötzlich hängt am Pflegegeld ein Pflichttermin, der sich wie Kontrolle anfühlt.

Rechtlich ist diese Pflicht anders gedacht. Wer ausschließlich Pflegegeld bezieht und zu Hause versorgt wird, muss in festgelegten Abständen einen Beratungsbesuch nachweisen. Der entscheidende Punkt ist dabei nicht, ob eine Familie „gut genug“ pflegt, sondern dass das System dort absichert, wo keine professionelle Leistung regelmäßig im Haushalt stattfindet.

Warum die Pflicht gerade beim Pflegegeld greift

Pflegegeld steht für Freiheit: Angehörige organisieren die Versorgung selbst, flexibel, ohne feste Dienstpläne und ohne externe Struktur. Genau diese Freiheit hat eine Kehrseite. Weil keine regelmäßige professionelle Einbindung automatisch stattfindet, setzt das Recht einen externen Blickpunkt als Mindeststandard: nicht als Misstrauensbeweis, sondern als Schutzmechanismus.

Der Beratungsbesuch soll Überforderung früh sichtbar machen, Risiken erkennen und Hinweise geben, welche Entlastung überhaupt existiert – von Leistungen bis zu praktischer Unterstützung.

Dass die Pflicht trotzdem wie eine Drohung wirkt, ist kein Missverständnis, sondern ein Effekt der Lage: Wer vom Pflegegeld abhängig ist, erlebt jeden formalen Nachweis unter dem Druck, dass das Geld im Zweifel blockiert werden kann.

Wie oft der Beratungsbesuch vorgeschrieben ist

Aktuell gilt: In Pflegegrad 2 und 3 ist der Beratungseinsatz einmal pro Halbjahr nachzuweisen. In Pflegegrad 4 und 5 erfolgt die Pflicht quartalsweise. Pflegegrad 1 kann Beratung nutzen, ist aber nicht in dieses Nachweissystem eingebunden. Genau an dieser Schwelle entstehen viele Irritationen: Mit der Höherstufung kommt nicht nur mehr Leistung, sondern auch ein Rhythmus, der verwaltet werden muss.

Was beim Beratungsbesuch wirklich zählt – und was viele falsch einschätzen

Im Termin selbst kann es um sehr konkrete Pflegefragen gehen: Sicherheit zu Hause, Mobilität, Hilfsmittel, Umgang mit kognitiver Belastung, Konflikte in der Familie, Erschöpfung. Entscheidend ist aber eine Systemwahrheit, die viele erst bemerken, wenn es knallt: Im Zweifel entscheidet nicht das Gespräch, sondern die Akte.

Erstens ist der Beratungsbesuch keine Pflegegradprüfung. Er ersetzt keine Begutachtung und ist nicht dafür da, den Pflegegrad neu zu bewerten. Dass er trotzdem als „Test“ empfunden wird, liegt daran, dass Pflichtkontakte im Sozial- und Gesundheitsrecht schnell als Risiko gelesen werden – gerade dann, wenn parallel Schreiben mit Fristen und Konsequenzen im Raum stehen.

Zweitens hängt die praktische Wirkung des Termins an der Dokumentation. Das bundeseinheitliche Nachweisformular ist die eigentliche Schaltstelle. Ein Besuch kann freundlich, klärend und hilfreich gewesen sein – und leistungstechnisch dennoch zum Problem werden, wenn der Nachweis verspätet eingeht oder nicht sauber zugeordnet wird.

Viele Konflikte entstehen genau dort: Der Termin war real, die Akte sagt „nicht nachgewiesen“.

Drittens wird häufig überschätzt, dass jede Aussage automatisch bei der Pflegekasse landet. Das System unterscheidet zwischen dem Pflichtnachweis, dass der Termin stattgefunden hat, und zusätzlichen Informationen, die nicht zwingend in derselben Tiefe weitergegeben werden. Für bestimmte Angaben sind Einwilligungen vorgesehen.

Entscheidend bleibt: Der Pflichtcharakter hängt am Nachweis des Einsatzes – nicht daran, wie ausführlich eine Familie persönliche Details offenlegt.

Videoberatung: Entlastung, aber nicht als Vollersatz

Die Pflichtberatung kann inzwischen teilweise digital stattfinden. Auf Wunsch kann jede zweite Beratung per Videokonferenz erfolgen; die erste Beratung muss weiterhin in der Häuslichkeit stattfinden. Diese Möglichkeit ist befristet und derzeit bis Ende März 2027 vorgesehen.

Politisch ist das eine klare Richtung: weniger Wege, weniger organisatorischer Druck. Gleichzeitig bleibt der Grundgedanke erhalten, dass der persönliche Eindruck vor Ort nicht vollständig ersetzt werden soll.

Wo das System in der Praxis scheitert

Die größten Reibungen entstehen selten aus mangelnder Pflegebereitschaft. Sie entstehen dort, wo Pflichtsysteme auf Engpässe treffen. Beratungsstellen und Pflegedienste sind vielerorts überlastet, Termine sind knapp, Fristen laufen weiter.

Aus einer Beratung, die eigentlich entlasten soll, wird so ein organisatorischer Stresspunkt: Wer nicht schnell genug einen Termin bekommt oder wer mit der Dokumentation in eine Verzögerung gerät, erlebt den Beratungsbesuch nicht als Hilfe, sondern als drohende Unterbrechung des Pflegegelds.

In dieser Verschiebung liegt die eigentliche Brisanz: Nicht die Beratung ist das Problem, sondern die Verwaltungslogik, die am Ende ausgerechnet die Pflegebedürftigen trifft, wenn Strukturen nicht liefern.

Was sich 2026 ändern könnte – und warum das noch nicht entschieden ist

Für 2026 ist eine Entlastung bei den Pflicht-Beratungsbesuchen politisch angelegt. Bestandteil eines Gesetzespakets zur Entbürokratisierung in der Pflege ist die Absicht, die Intervalle zu vereinheitlichen.

Vorgesehen ist, dass in den Pflegegraden 2 bis 5 der Beratungsbesuch nur noch halbjährlich nachzuweisen wäre. Das würde vor allem Pflegegrad 4 und 5 entlasten, die bisher quartalsweise gebunden sind.

Zusätzlich ist geplant, den Nachweis stärker zu digitalisieren, damit weniger Papierlauf und weniger Bruchstellen zwischen Termin und Leistungsanspruch entstehen. Genau hier steckt für Betroffene der größte Hebel: Wenn der Nachweis reibungsloser läuft, verliert die Pflichtberatung ihren Charakter als Verwaltungsfalle.

Wichtig bleibt der Stand des Verfahrens: Diese Änderungen sind politisch beschlossen, aber noch nicht endgültig abgeschlossen. Der Bundesrat hat den Vermittlungsausschuss angerufen. Ob, wann und in welcher Form das 2026 tatsächlich gilt, ist damit noch offen. Wer heute darüber liest, sollte es deshalb als Reformziel verstehen – nicht automatisch als Rechtslage ab dem 1. Januar.

Warum diese Pflichtberatung mehr ist als ein Termin

Die Pflichtberatung markiert einen Grundkonflikt der Pflegepolitik: Pflegegeld setzt auf Vertrauen und Eigenverantwortung – Pflichttermine setzen auf Absicherung und Steuerung.

Solange häusliche Pflege strukturell auf Angehörigen lastet, bleibt dieser Konflikt im System eingebaut. Entscheidend ist nicht, ob Beratung stattfindet, sondern ob sie so gestaltet ist, dass sie Menschen tatsächlich entlastet – und nicht nur formal nachweist, dass ein Systemkontakt stattgefunden hat.