Schwerbehinderung: GdB 70, trotzdem kein „aG“: Gericht lehnt Merkzeichen ab

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Schwerer Unfall, hohe Einschränkungen – und trotzdem kein Merkzeichen „aG“. Eine Rentnerin aus Baden-Württemberg wollte nach einem Verkehrsunfall eine höher eingestufte Schwerbehinderung und das Merkzeichen „außergewöhnliche Gehbehinderung“ durchsetzen. Das Landessozialgericht lehnte ab.

Für viele Leserinnen und Leser mit Schwerbehinderung ist dieser Fall ein Wecksignal: Entscheidend ist nicht, wie dramatisch der Unfall war, sondern wie stark Ihre Gehfähigkeit heute im Alltag eingeschränkt ist.

Merkzeichen „aG“ abgelehnt: Was im konkreten Fall passiert ist

Die Klägerin erlitt 2012 einen schweren Verkehrsunfall. Sie zog sich mehrere Verletzungen zu: Schädel- und Wirbelsäulenschäden, Brüche im Beckenbereich und an den Gliedmaßen. Außerdem traten eine Gesichtsnervenlähmung und Hörstörungen auf.

Nach dem Unfall war sie fast ein Jahr arbeitsunfähig. Die gesetzliche Unfallversicherung stellte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 Prozent fest und zahlte eine Verletztenrente.

Später beantragte die Frau beim zuständigen Versorgungsamt einen Grad der Behinderung von mindestens 90 sowie das Merkzeichen „aG“. Die Behörde erkannte einen GdB von 70 an, lehnte aber das Merkzeichen ab. Gegen diese Entscheidung legte sie Widerspruch ein. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg.

Anschließend klagte sie vor dem Sozialgericht. Auch dort erhielt sie kein Merkzeichen. Die Frau erschien nicht zur mündlichen Verhandlung. Ihr Anwalt nahm ebenfalls nicht teil. Das Gericht entschied deshalb in Abwesenheit. Die Berufung vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg blieb ebenfalls erfolglos. Das Gericht bestätigte den GdB von 70 und die Ablehnung des Merkzeichens „aG“.

Wie das Gericht die Gehfähigkeit der Rentnerin bewertet hat

Nach den medizinischen Gutachten konnte die Klägerin noch etwa 50 Meter ohne Hilfe zurücklegen. Die Gutachter beschrieben zwar eine deutliche Gangunsicherheit.

Sie stellten aber keine Situation fest, in der sie sich dauerhaft nur mit fremder Unterstützung oder nur unter größter Anstrengung bewegen konnte. Genau diese Schwelle ist für das Merkzeichen „aG“ entscheidend.

Die Richter sahen daher eine schwere, aber keine außergewöhnliche Gehbehinderung. Weitere gesundheitliche Probleme wie Atemwegserkrankungen oder Sehschwächen vergrößerten zwar die Gesamtbelastung, änderten aber nichts daran, dass die mobilitätsbezogene Einschränkung unterhalb der gesetzlichen Schwelle blieb. Der Gesamt-GdB von 70 reichte nicht aus, um das Merkzeichen „aG“ zu begründen.

Wichtig ist: Die Minderung der Erwerbsfähigkeit aus der Unfallversicherung ist für diese Frage nur ein Baustein. Sie zeigt, wie stark der Unfall die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. Für das Merkzeichen kommt es aber auf die konkrete Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr an.

Rechtslage: Wann das Merkzeichen „aG“ überhaupt in Betracht kommt

Das Merkzeichen „aG“ ist im Schwerbehindertenrecht verankert. Es steht für „außergewöhnliche Gehbehinderung“. Seit einigen Jahren knüpft das Recht stärker an den Begriff der „mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung“ an. Gemeint ist: Die Gehfähigkeit muss so stark gemindert sein, dass allein dieser Bereich einen Grad der Behinderung von 80 erreichen würde. Erst dann kann „aG“ festgesetzt werden.

Typische Fälle sind Menschen mit Querschnittlähmung, Doppelamputationen an den Beinen oder vergleichbar schweren orthopädischen Beeinträchtigungen. Häufig sind sie auf einen Rollstuhl angewiesen – auch auf kurzen Strecken außerhalb der Wohnung.

Gleichgestellt sind Personen mit sehr schweren Herz- oder Lungenerkrankungen, die nur wenige Schritte gehen können, bevor die Belastung unzumutbar wird.

Die Rechtsprechung hat diese Kriterien in den vergangenen Jahren präzisiert. Maßstab ist, wie sich der Mensch im öffentlichen Verkehrsraum bewegt. Entscheidend ist also nicht der Weg innerhalb der Wohnung, sondern die tatsächliche Fortbewegung auf Straßen, Wegen und Plätzen.

Auch eine erhöhte Sturzgefahr führt nur dann zum Merkzeichen, wenn sie aus objektiver medizinischer Sicht jederzeit droht und das Gehen damit praktisch unmöglich macht.

Unterschied zu Merkzeichen „G“: Nicht jede Gehbehinderung ist „außergewöhnlich“

Viele Betroffene verwechseln die beiden Merkzeichen. „G“ steht für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Es reicht, wenn längere Wegstrecken – typischerweise zwei Kilometer – nur unter erheblichen Mühen oder mit Pausen geschafft werden. Dann kommen Vergünstigungen bei Fahrpreisen im öffentlichen Nahverkehr in Betracht.

Für „aG“ gelten deutlich strengere Maßstäbe. Hier geht es um Menschen, die sich außerhalb des eigenen Fahrzeugs kaum noch bewegen können. Oft gelingt nur ein sehr kurzer Weg vom Auto zur Wohnung oder zur Arztpraxis. Häufig ist ein Rollstuhl unverzichtbar.

Nur diese Gruppe erhält in der Regel auch den blauen Parkausweis mit besonderen Parkerleichterungen sowie zusätzliche Vorteile etwa bei der Kfz-Steuer.

Im Fall der Rentnerin sah das Gericht diese Schwelle als nicht erreicht an. Ihre Gehfähigkeit war deutlich eingeschränkt, aber nicht so stark, dass sie praktisch nur noch mit fremder Hilfe oder unter extremem Kraftaufwand vorankam.

Warum ein GdB von 70 noch kein Merkzeichen „aG“ garantiert

Viele Leser gehen davon aus, dass ein hoher Gesamt-GdB automatisch zu Merkzeichen führt. Das Urteil zeigt, dass das ein Irrtum ist. Entscheidend ist nicht allein die Zahl im Bescheid, sondern die Zusammensetzung.

Für „aG“ zählt, welchen Anteil die Gehbehinderung am Gesamt-GdB hat. Nur wenn die mobilitätsbezogenen Beeinträchtigungen für sich genommen die Schwelle von 80 Punkten erreichen oder erreichen würden, kommt das Merkzeichen überhaupt in den Blick. Mehrere verschiedene Erkrankungen können zwar zusammen einen GdB von 70 oder mehr ergeben.

Wenn aber nur ein Teil davon die Gehfähigkeit betrifft, verfehlt die mobilitätsbezogene Behinderung oft diese Grenze.

Im entschiedenen Fall werteten die Richter die Schäden an Wirbelsäule, Beinen und Gleichgewicht zwar hoch. Sie sahen den mobilitätsbezogenen Anteil aber unterhalb der Möglichkeit, allein dadurch einen GdB von 80 zu begründen. Daher blieb es beim GdB 70 ohne Merkzeichen „aG“.

Was Betroffene aus dem Urteil konkret mitnehmen können

Wenn Sie selbst einen Schwerbehindertenausweis haben oder beantragen möchten, hilft der Fall bei der Einordnung. Eine schwere Verletzung, ein Polytrauma oder eine lange Arbeitsunfähigkeit reichen nicht automatisch für das Merkzeichen „aG“. Entscheidend ist, wie weit Sie heute noch gehen können, wie groß die Anstrengung ist und ob Sie dabei ständig fremde Hilfe brauchen.

Für einen Antrag sollten Sie Ihre Mobilität sehr genau dokumentieren. Wichtig sind Angaben zu typischen Wegstrecken: vom Hauseingang zum Auto, von der Haltestelle in die Praxis, durch den Supermarkt.

Ärztliche Berichte sollten erläutern, ob Sie Hilfsmittel wie Rollator oder Rollstuhl benötigen, wie lange Sie stehen können und ob jederzeit eine Sturzgefahr besteht. Je konkreter diese Informationen sind, desto besser können Versorgungsämter und Gerichte die Lage einschätzen.

Sind Sie bereits schwerbehindert und erhalten „nur“ das Merkzeichen „G“, kann ein genauer Blick auf Ihre aktuelle Gehfähigkeit sinnvoll sein. Verschlechtert sich Ihr Zustand deutlich, kommt ein Überprüfungs- oder Neufeststellungsantrag in Betracht.

Dabei sollten Sie frühzeitig fachkundige Beratung nutzen, etwa bei Sozialverbänden, unabhängigen Beratungsstellen oder spezialisierten Anwälten.

Wie Sie bei einer Ablehnung des Merkzeichens reagieren können

Lehnt die Behörde das Merkzeichen „aG“ ab, können Sie innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Im Widerspruch sollten Sie konkret begründen, warum Ihre Gehfähigkeit stärker eingeschränkt ist, als das Amt annimmt. Neue ärztliche Befunde, Reha-Berichte oder eine genaue Schilderung Ihres Alltags sind besonders hilfreich.

Bleibt der Widerspruch erfolglos, steht der Klageweg zum Sozialgericht offen. Dort stützen sich die Richter meist auf unabhängige medizinische Gutachten. Der Fall der Rentnerin zeigt, wie wichtig es ist, die eigene Position in der Verhandlung zu vertreten oder sich vertreten zu lassen.

Wer nicht erscheint und keine Rückfragen beantwortet, überlässt die Entscheidung allein den vorliegenden Akten.

Wenn Sie betroffen sind, sollten Sie also früh klären, ob die strengen Kriterien für „aG“ überhaupt erreichbar sind. Ist das nicht der Fall, kann es sinnvoller sein, andere Nachteilsausgleiche konsequent auszuschöpfen – zum Beispiel das Merkzeichen „G“ oder steuerliche Vergünstigungen bei einem anerkannten GdB.