In vielen Betrieben der Industrie, Chemie- und Automobilwirtschaft wird derzeit Personal abgebaut oder umstrukturiert. Für Beschäftigte der geburtenstarken Jahrgänge ist die Altersteilzeit (ATZ) deshalb häufig das wichtigste Instrument, um den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand sozialverträglich zu gestalten.
Typisch ist dabei ein Modell, in dem die Altersteilzeit einige Monate vor dem geplanten Rentenbeginn endet und dieser Zeitraum mit Arbeitslosengeld überbrückt werden soll.
Die entscheidende Frage lautet: Darf die Agentur für Arbeit in dieser Konstellation eine Sperrzeit wegen „Arbeitsaufgabe“ verhängen – oder ist der Bezug von Arbeitslosengeld I (ALG I) ohne Sperrzeit möglich, wenn am Ende eine abschlagsfreie Altersrente steht?
Das Bundessozialgericht (BSG) hat hierzu mit Urteil (Az. B 11 AL 25/16 R) eine wegweisende Entscheidung getroffen. Demnach kann nach einer Altersteilzeit, die von Beginn an auf den Renteneintritt ausgerichtet war, eine Phase der Arbeitslosigkeit ohne Sperrzeit liegen, auch wenn die betroffene Person ihre ursprüngliche Rentenplanung später anpasst und zunächst ALG I statt einer sofortigen Altersrente bezieht.
Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe
Nach § 159 SGB III tritt eine Sperrzeit ein, wenn die oder der Versicherte das Beschäftigungsverhältnis selbst löst oder durch eigenes Verhalten Anlass für eine Kündigung gibt und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig Arbeitslosigkeit herbeiführt.
Die Dauer der Sperrzeit bei „Arbeitsaufgabe“ beträgt grundsätzlich zwölf Wochen und führt nicht nur zu einem zeitweisen Ruhen des Anspruchs, sondern auch zu einer Minderung der gesamten Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld.
Die Agentur für Arbeit prüft daher in jedem Fall, in dem ein unbefristetes Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag, Eigenkündigung oder – wie bei der Altersteilzeit – durch Umwandlung in ein befristetes Beschäftigungsverhältnis endet, ob das Verhalten als „versicherungswidrig“ anzusehen ist. Liegt kein „wichtiger Grund“ für die Beendigung vor, kann eine Sperrzeit folgen.
Altersteilzeit ist als sozialpolitisches Mittel im Gesetz ausdrücklich angelegt und soll gerade einen gleitenden Übergang in den Ruhestand ermöglichen. Trotzdem wurde immer wieder darüber gestritten, ob der Wechsel in ein befristetes ATZ-Arbeitsverhältnis und die anschließende Arbeitslosigkeit als vorwerfbares Verhalten zu werten ist – insbesondere, wenn ursprünglich eine Altersrente mit Abschlag geplant war, später aber doch eine abschlagsfreie Rentenvariante genutzt wird.
Der Fall vor dem Bundessozialgericht
Im vom BSG entschiedenen Fall hatte eine langjährig beschäftigte Arbeitnehmerin mit ihrem Arbeitgeber einen Altersteilzeitvertrag im Blockmodell abgeschlossen. Das unbefristete Arbeitsverhältnis wurde in ein befristetes ATZ-Verhältnis umgewandelt. Die Planung sah zunächst vor, nach Ende der Freistellungsphase direkt eine Altersrente mit Abschlag zu beziehen.
Zwischen Abschluss des ATZ-Vertrags und dem vorgesehenen Rentenbeginn änderte sich jedoch die Rechtslage: Durch die Einführung einer zusätzlichen abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte ergab sich für die Klägerin die Möglichkeit, nach einer kurzen Zwischenphase noch ohne Abschläge in Rente zu gehen, sofern sie die erforderlichen 45 Versicherungsjahre (Wartezeit) erreichte.
Die Klägerin entschied sich deshalb um. Statt unmittelbar in Rente zu gehen, meldete sie sich nach Ende der Altersteilzeit arbeitslos und beantragte ALG I, um den Zeitraum bis zur abschlagsfreien Rente zu überbrücken.
Die Agentur für Arbeit verhängte daraufhin eine zwölfwöchige Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe. Das Sozialgericht bestätigte diese Sichtweise. Das Landessozialgericht hielt die Sperrzeit dem Grunde nach ebenfalls für gerechtfertigt, verkürzte sie jedoch wegen „besonderer Härte“ auf sechs Wochen. Erst das BSG hob diese Entscheidungen auf und stellte klar: In dieser Konstellation hätte überhaupt keine Sperrzeit verhängt werden dürfen.
Maßgeblich ist der Zeitpunkt des „Lösungsakts“
Die Richterinnen und Richter in Kassel knüpften ihre Beurteilung an einen entscheidenden Punkt: den Zeitpunkt, zu dem das unbefristete Arbeitsverhältnis in ein befristetes Arbeitsverhältnis im Rahmen der Altersteilzeit umgewandelt wurde.
Nach Auffassung des BSG ist ausschließlich dieser Moment – der sogenannte Lösungsakt – maßgeblich, um zu beurteilen, ob ein wichtiger Grund für die Beendigung des ursprünglichen Dauerarbeitsverhältnisses vorlag. Entscheidend ist also die damalige objektive Situation und die mit Unterlagen belegte Absicht der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers, nahtlos von der Altersteilzeit in den Rentenbezug überzugehen.
Lag diese Absicht im Zeitpunkt des ATZ-Abschlusses vor und war sie angesichts von Rentenauskünften oder Beratungen bei der Deutschen Rentenversicherung realistisch, so handelt es sich aus Sicht des BSG um einen wichtigen Grund, der eine Sperrzeit ausschließt.
Spätere Planänderungen – wie hier die Entscheidung, zunächst ALG I in Anspruch zu nehmen, weil überraschend eine günstigere, abschlagsfreie Rentenvariante geschaffen wurde – sind für die Beurteilung des wichtigen Grundes nicht mehr relevant.
Das spätere Verhalten spielt sperrzeitrechtlich keine Rolle, solange kein neuer Sperrzeittatbestand hinzu kommt, etwa eine spätere eigenverantwortliche Kündigung oder die Ablehnung zumutbarer Beschäftigung.
Altersteilzeit als gesetzlich gewollter Übergang in den Ruhestand
Das Bundessozialgericht betont ausdrücklich, dass Altersteilzeit kein versicherungswidriges Verhalten darstellt. Sie ist im Gegenteil vom Gesetzgeber gewollt, um älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen sozialverträglichen Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu ermöglichen und zugleich Betrieben Personalplanung zu erleichtern.
Wer Altersteilzeit vereinbart, um im Anschluss eine Altersrente zu beziehen – sei es mit oder ohne Abschlag –, nutzt also ein legales und politisch gewolltes Instrument. In dieser Nutzung allein kann der Agentur für Arbeit kein vorwerfbares Verhalten entgegengehalten werden.
Wichtig ist jedoch, dass zwischen Abschluss der ATZ-Vereinbarung und Beginn der Arbeitslosigkeit keine zusätzliche Pflicht konstruiert wird, etwa eine allgemeine Pflicht, jede spätere Arbeitslosigkeit um jeden Preis zu vermeiden.
Eine solche Pflicht sieht das Gesetz nicht vor. Bestehende Obliegenheiten – etwa die frühzeitige Arbeitsuchendmeldung nach § 38 SGB III – sind gesondert geregelt und können zum Beispiel bei Verstößen eigene Sperrzeiten auslösen. Sie ändern jedoch nichts daran, dass der ursprüngliche Übergang in die Altersteilzeit bei entsprechender Rentenabsicht als wichtiger Grund anerkannt bleibt.
Welche Voraussetzungen Versicherte im Blick behalten sollten
Aus der Entscheidung des BSG lässt sich ein klares Prüfschema ableiten, das in der Praxis jedoch sorgfältig mit Leben gefüllt werden muss.
Erstens muss die Altersteilzeit von Beginn an auf den Übergang in eine Altersrente gerichtet gewesen sein. Das bedeutet: Im Zeitpunkt des ATZ-Vertragsabschlusses müssen objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die oder der Versicherte nach dem Ende der Altersteilzeit unmittelbar den Ruhestand anstrebt.
Das kann sich aus Rentenauskünften, Beratungsprotokollen der Deutschen Rentenversicherung oder interner Korrespondenz mit der Personalabteilung ergeben.
Zweitens sollte im Idealfall bereits zu diesem Zeitpunkt erkennbar sein, dass die nötige Wartezeit für eine abschlagsfreie oder eine bestimmte vorgezogene Altersrente erreicht wird oder sich realistisch erreichen lässt. Gerade bei der abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte spielt die 45-jährige Wartezeit eine entscheidende Rolle.
Drittens zeigt die nachfolgende Rechtsprechung der Instanzgerichte, dass das Fehlen belastbarer Unterlagen zu Rentenbeginn und Rentenhöhe problematisch sein kann. In einem späteren Verfahren aus dem Jahr 2020 etwa wurde eine Sperrzeit bestätigt, weil der Kläger vor Abschluss der Altersteilzeit keine Rentenauskunft eingeholt hatte und damit keine objektiv belegbare Rentenabsicht nachweisen konnte.
Mit anderen Worten: Die Grundlinie des BSG schützt diejenigen, die Altersteilzeit erkennbar zur Vorbereitung des Ruhestands nutzen. Wer jedoch ohne vorherige Information über Rentenbeginn und Rentenansprüche in eine ATZ-Vereinbarung eintritt, läuft Gefahr, dass die Agentur für Arbeit im Nachhinein keinen wichtigen Grund anerkennt.
Bedeutung für Beschäftigte in Transformationsbranchen
Für viele Beschäftigte, besonders in Branchen mit tiefgreifendem Strukturwandel wie Automobilindustrie, Zulieferer oder Chemie, hat das Urteil erhebliche praktische Bedeutung. Altersteilzeitmodelle werden häufig im Rahmen von Sozialplänen oder Transformationsvereinbarungen genutzt, um Personal abzubauen, ohne zu betriebsbedingten Kündigungen greifen zu müssen.
Die Entscheidung des BSG schafft hier zusätzliche Sicherheit: Ältere Beschäftigte können Altersteilzeit als Brücke nutzen, selbst wenn die ATZ-Phase noch eine Lücke bis zur abschlagsfreien Rente lässt und diese Lücke mit ALG I überbrückt werden muss. Solange die ursprüngliche Gestaltung auf den Renteneintritt gerichtet war und dies belegbar ist, steht dem aus Sicht des Gerichts keine Sperrzeit entgegen.
Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass sie Altersteilzeitmodelle weiterhin als Instrument der Personalsteuerung einsetzen können, ohne dass den Beschäftigten pauschal Sperrzeitrisiken drohen. Allerdings wird es für Betriebe immer wichtiger, die sozialrechtlichen Konsequenzen von ATZ-Modellen transparent zu kommunizieren und Beschäftigte auf die Notwendigkeit frühzeitiger Rentenberatung hinzuweisen.
Die Entscheidung knüpft an eine frühere BSG-Rechtsprechung an, wonach bereits 2009 klargestellt wurde, dass eine Altersteilzeitvereinbarung im Blockmodell einen wichtigen Grund für die Lösung des Arbeitsverhältnisses darstellen kann, wenn sie auf einen nahtlosen Übergang in den Rentenbezug ausgerichtet ist.
Nach dem Urteil musste die Bundesagentur für Arbeit ihre internen Weisungen zur Behandlung solcher Fälle konkretisieren, um der Linie des BSG Rechnung zu tragen und zugleich Missbrauch vorzubeugen. Die Verwaltungspraxis soll sicherstellen, dass eine ALG-Brücke nach Altersteilzeit nicht als Instrument genutzt wird, um ohne Rentenabsicht Arbeitslosigkeit bewusst herbeizuführen, aber gleichzeitig diejenigen geschützt werden, die tatsächlich den Ruhestand planen.
Für Betroffene bedeutet dies: Die Fachpraxis hat sich an der Leitentscheidung zu orientieren, im Einzelfall bleibt aber immer eine Prüfung, ob die dokumentierte Rentenabsicht tatsächlich vorlag.
Praktische Hinweise fürBetroffene
Wer Altersteilzeit als Weg in den Ruhestand in Betracht zieht und eine spätere ALG-Brücke zur abschlagsfreien Rente nicht ausschließen möchte, sollte einige Punkte besonders sorgfältig beachten.
Vor Abschluss einer ATZ-Vereinbarung empfiehlt es sich, eine aktuelle Rentenauskunft bei der Deutschen Rentenversicherung einzuholen und sich gegebenenfalls beraten zu lassen.
Dabei sollte geklärt werden, welche Rentenarten zu welchem Zeitpunkt möglich sind, wie hoch die jeweiligen Abschläge ausfallen würden und ob eine abschlagsfreie Rente – etwa als Altersrente für besonders langjährig Versicherte – nach einer kurzen Überbrückungsphase erreichbar ist.
Diese Informationen sollten dokumentiert werden, idealerweise zusammen mit schriftlichen Notizen oder Protokollen von Beratungsgesprächen. Sie können später ein wichtiger Baustein sein, um gegenüber der Agentur für Arbeit nachzuweisen, dass die Altersteilzeit von Beginn an mit Blick auf den rentennahen Ausstieg aus dem Arbeitsleben vereinbart wurde.
Zudem ist es sinnvoll, frühzeitig mit der zuständigen Agentur für Arbeit über die geplante Gestaltung zu sprechen. Zwar ist die Behörde an spätere informelle Auskünfte nicht in jedem Fall gebunden, dennoch kann ein solches Gespräch helfen, Missverständnisse zu vermeiden und auf mögliche Fallstricke hinzuweisen.




