Wer Pflegeleistungen beantragt, braucht schnell Klarheit: Wird ein Pflegegrad anerkannt, und wenn ja, welcher? Genau deshalb hat der Gesetzgeber klare Bearbeitungsfristen fรผr Pflegekassen eingefรผhrt โ und eine Sanktionszahlung von 70 Euro pro Woche, wenn diese Fristen รผberschritten werden.
Der Betrag klingt unscheinbar, kann aber โ gerade bei monatelangen Verzรถgerungen โ schnell in den drei- oder sogar vierstelligen Bereich wachsen.
Rechtliche Grundlage: ยง 18c SGB XI
Die Regelung findet sich heute in ยง 18c Absatz 5 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI).
Danach gilt: Erteilt die Pflegekasse den schriftlichen Bescheid รผber den Antrag auf Pflegeleistungen nicht innerhalb von 25 Arbeitstagen nach Antragseingang oder hรคlt die Kasse beziehungsweise der Medizinische Dienst die verkรผrzten Begutachtungsfristen nicht ein, muss die Kasse fรผr jede begonnene Woche der Fristรผberschreitung 70 Euro an die antragstellende Person zahlen.
Die Norm verweist dabei auf die verkรผrzten Fristen des ยง 18a Absรคtze 5 und 6 SGB XI. Sie gelten bei Eil- und Akut-Situationen, etwa im Krankenhaus, in der Reha oder bei ambulanter palliativer Versorgung, wenn rasch entschieden werden muss, wie die weitere Pflege organisiert wird.
Wichtig ist: Die Vorschrift bindet nicht nur die sozialen Pflegekassen, sondern โentsprechendโ auch die privaten Versicherer, die die private Pflegepflichtversicherung durchfรผhren.
Welche Fristen gelten fรผr die Pflegebegutachtung?
Der Weg zur Zahlung von 70 Euro pro Woche fรผhrt immer รผber Fristen. Entscheidend ist, welche Frist im Einzelfall greift.
Regelhaft gilt eine Bearbeitungsfrist von 25 Arbeitstagen. Binnen dieses Zeitraums muss die Pflegekasse รผber den Antrag auf Leistungen entschieden und den Bescheid verschickt haben. Der Zeitraum umfasst den Eingang des Antrags, die Beauftragung des Medizinischen Dienstes oder von Medicproof (bei Privatversicherten), die Begutachtung und das anschlieรende Gutachten.
Daneben gibt es kรผrzere Fristen, wenn eine schnellere Entscheidung notwendig ist.
Bei einem Aufenthalt im Krankenhaus, in einer stationรคren Rehabilitationseinrichtung, in einem Hospiz oder bei ambulanter Palliativversorgung muss die Begutachtung in der Regel innerhalb von fรผnf Arbeitstagen erfolgen, wenn es um die Sicherstellung der Versorgung oder eine angekรผndigte Pflegezeit bzw. Familienpflegezeit geht.
Leben Betroffene zuhause und kรผndigt eine Pflegeperson beim Arbeitgeber Pflegezeit oder Familienpflegezeit an, greifen Fristen von zehn Arbeitstagen fรผr eine vorlรคufige Einschรคtzung beziehungsweise von zwei Wochen fรผr Begutachtung und Entscheidung, je nach Konstellation und Auslegung.
All diese Fristen sind im Ergebnis an dieselbe Konsequenz geknรผpft. Werden sie รผberschritten und liegt die Verantwortung dafรผr bei der Pflegekasse, entsteht der Anspruch auf 70 Euro pro begonnener Woche der Fristรผberschreitung.
Ab wann laufen die Fristen โ und ab wann gibt es 70 Euro?
Die Frist beginnt mit Eingang des Antrags bei der Pflegekasse. Das Gesetz stellt ausdrรผcklich auf den Tag der Antragstellung im Sinne von ยง 33 Absatz 1 SGB XI ab. Wichtig ist daher, diesen Tag dokumentieren zu kรถnnen โ etwa durch Eingangsbestรคtigung, Faxprotokoll oder ein Schreiben der Kasse.
Die Frist endet, sobald der schriftliche Bescheid der Pflegekasse erteilt ist. Maรgeblich ist nach der herrschenden Praxis das Datum, an dem die Entscheidung versandt wird, nicht unbedingt erst der Tag, an dem der Bescheid im Briefkasten liegt.
Wird die Frist รผberschritten, setzt die Entschรคdigung ein. Das Gesetz spricht von โjeder begonnenen Wocheโ der Fristรผberschreitung. Das bedeutet: Bereits der erste Tag nach Ablauf der 25 Arbeitstage โ oder der jeweiligen verkรผrzten Frist โ lรถst eine volle Wochenpauschale von 70 Euro aus. Dauert die Verzรถgerung zum Beispiel fรผnf Wochen, summiert sich die Pauschale auf 350 Euro.
Hinzu kommt: Die Pflegekasse muss die Zahlung โunverzรผglichโ leisten. Sie darf die Pauschalen also nicht gesammelt erst am Ende des Verfahrens zahlen, sondern muss sie grundsรคtzlich zeitnah zum Eintritt der Fristรผberschreitung anweisen. Diese Auslegung hat das Bundesamt fรผr Soziale Sicherung 2024 gegenรผber den Kassen bekrรคftigt.
Fristunterbrechung: Wann der Anspruch ruht
Die 70-Euro-Regel greift nur, wenn die Pflegekasse die Verzรถgerung zu vertreten hat. ยง 18c Absatz 5 SGB XI nennt ausdrรผcklich Fรคlle, in denen die Zahlungspflicht entfรคllt oder die Frist vorรผbergehend unterbrochen wird.
Kein Verschulden der Pflegekasse liegt etwa vor, wenn die antragstellende Person einen bereits vereinbarten Begutachtungstermin absagt โ zum Beispiel wegen eines ungeplanten Krankenhausaufenthalts โ und deshalb ein neuer Termin gefunden werden muss.
In dieser Zeit ist die Frist unterbrochen; sie lรคuft nach Ende des Hinderungsgrundes weiter. Das hat das Bundesamt fรผr Soziale Sicherung 2024 gegenรผber den Kassen ausdrรผcklich klargestellt und eine Praxis zurรผckgewiesen, nach der die Frist neu anlaufen sollte.
Ebenfalls unterbrochen ist die Frist, wenn die Pflegekasse noch zwingend benรถtigte Unterlagen anfordert. Ab Zugang der Aufforderung bis zum Eingang der Unterlagen bei der Pflegekasse โstopptโ der Fristenlauf, danach lรคuft er weiter.
Fรผr die Praxis bedeutet das, dass Verzรถgerungen, die durch die Pflegekasse selbst oder durch von ihr beauftragte Gutachter entstehen โ etwa Terminengpรคsse oder organisatorische Probleme โ fallen grundsรคtzlich in den Verantwortungsbereich der Kasse. Verzรถgerungen, die eindeutig von der Versicherten- oder Angehรถrigenseite ausgehen, tun dies nicht. Die Abgrenzung ist im Einzelfall oft strittig und wird zunehmend von Beratungsstellen und Gerichten bewertet.
Wer bekommt die 70 Euro โ und in welchen Fรคllen gilt die Regel nicht?
Adressat der Zahlung ist die antragstellende Person. Das kann die pflegebedรผrftige Person selbst sein, eine gesetzliche Vertretung oder eine bevollmรคchtigte Person, je nachdem, wer den Antrag gestellt hat.
Die Zahlung ist von der eigentlichen Leistungsentscheidung unabhรคngig. Sie steht also auch dann zu, wenn letztlich kein oder nur ein niedriger Pflegegrad bewilligt wird.
Das Gesetz sieht allerdings klare Ausschlรผsse vor. “Kein Anspruch auf die 70-Euro-Pauschale besteht, wenn der Antragsteller sich in vollstationรคrer Pflege befindet und bereits mindestens Pflegegrad 2 festgestellt wurde. In diesen Konstellationen sollen Verzรถgerungen nicht zusรคtzlich sanktioniert werden”, bestรคtigt der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt.
Die Regelung gilt zudem nur, wenn รผber einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung entschieden wird. In der Fachpraxis wird sie sowohl auf Erstantrรคge als auch auf Antrรคge auf Hรถherstufung angewendet.
Ein Fall der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt zeigte, dass ein Versicherter nach deutlicher Fristรผberschreitung bei einem Hรถherstufungsantrag die Zusatzzahlung von der Pflegekasse sogar gerichtlich durchsetzen musste โ und Recht bekam.
Warum die 70-Euro-Regel eingefรผhrt wurde
Die Pauschale von 70 Euro pro Woche ist mehr als ein kleine Aufmerksamkeit fรผr lange Wartezeiten. Sie wurde eingefรผhrt, um einen finanziellen Anreiz fรผr Pflegekassen zu schaffen, die gesetzlich festgelegten Fristen einzuhalten.
Die Zahl der Pflegeantrรคge in Deutschland ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Der Medizinische Dienst Nordrhein berichtet beispielsweise von einem Zuwachs der jรคhrlichen Antragszahlen um รผber 47 Prozent zwischen 2017 und 2022 und rechnet bis 2030 sogar mit einer Verdoppelung.
In diesem Umfeld steigt das Risiko, dass Begutachtungen und Bescheide sich verzรถgern โ mit spรผrbaren Folgen: Pflegegeld flieรt spรคter, Pflegesachleistungen kรถnnen erst verzรถgert genutzt werden, Angehรถrige mรผssen finanzielle Vorleistungen erbringen oder Pflegezeit organisieren, ohne zu wissen, ob und in welchem Umfang Leistungen gewรคhrt werden.
Die 70-Euro-Pauschale ist deshalb als Sanktionsinstrument gedacht, das Verzรถgerungen unattraktiv macht und im Idealfall zu einer besseren Organisation der Verfahren zwingt. Gleichzeitig verschafft sie Betroffenen zumindest einen finanziellen Ausgleich fรผr eingeplante, aber ausgebliebene Leistungen.
Wie Betroffene ihren Anspruch praktisch durchsetzen
Nach dem Gesetz entsteht der Anspruch automatisch, sobald die Voraussetzungen erfรผllt sind. Die Pflegekasse ist verpflichtet, die Pauschale ohne gesonderten Antrag zu zahlen.
In der Praxis berichten Beratungsstellen und Pflegeberater jedoch immer wieder, dass viele Kassen die Zahlung nicht von sich aus vornehmen. Oft mรผssen Betroffene die 70 Euro ausdrรผcklich geltend machen, teilweise sogar schriftlich unter Hinweis auf ยง 18c Absatz 5 SGB XI. In Einzelfรคllen kam es bereits zu Klagen, bei denen Gerichte den Anspruch bestรคtigten.
Fรผr Versicherte bedeutet das, dass es sich lohnen kann, den Fristenlauf von Anfang an mitzuschreiben. “Wer sich das Eingangsdatum des Antrags notiert, die Termine der Begutachtung dokumentiert und den Tag des Bescheiddatums im Blick behรคlt, kann relativ genau berechnen, ob und ab wann eine Fristรผberschreitung vorliegt”, so Dr. Anhalt.
Zahlt die Kasse nicht von selbst, empfehlen Fachstellen in der Regel, schriftlich nachzufragen, die berechnete Zahl der Verzugswochen darzulegen und sich ausdrรผcklich auf die gesetzliche Vorschrift zu berufen.
Wird der Anspruch abgelehnt oder bleibt die Kasse untรคtig, kommen je nach Situation Widerspruch und im weiteren Schritt eine Klage vor dem Sozialgericht in Betracht. Dabei kann Unterstรผtzung durch Verbraucherzentralen, Pflegestรผtzpunkte oder spezialisierte Rechtsanwรคlte sinnvoll sein.
Beratung und Informationsfluss sind Pflicht
Pflegekassen sind verpflichtet, Antragsteller bei Eingang des Antrags auf die Fristen und die Folgen ihrer Nichteinhaltung hinzuweisen โ also auch auf die 70-Euro-Pauschale. Das ist ausdrรผcklich in ยง 18c Absatz 5 Satz 7 SGB XI geregelt.
Trotzdem zeigen Erfahrungsberichte von Beratungsstellen, dass viele Betroffene von diesem Recht nichts wissen und die Zahlung daher gar nicht einfordern. In manchen Fรคllen erfahren sie erst im Rahmen einer Pflegerechtsberatung oder durch Medienberichte von der Existenz der Pauschale.
Unabhรคngige Pflegeberatung โ ob bei kommunalen Pflegestรผtzpunkten, Wohlfahrtsverbรคnden oder Verbraucherzentralen โ spielt deshalb eine wichtige Rolle. Dort kรถnnen Betroffene klรคren, ob die Fristen im eigenen Fall eingehalten wurden und wie sich ein mรถglicher Anspruch konkret beziffern lรคsst.
Blick nach vorn: Diskussionen um Ausgestaltung der Regel
An der Hรถhe der Pauschale von 70 Euro pro Woche hat sich seit ihrer Einfรผhrung nichts geรคndert. In der Diskussion taucht immer wieder die Frage auf, ob dieser Betrag angesichts gestiegener Pflegekosten und Lebenshaltungskosten noch zeitgemรคร ist, oder ob eine Dynamisierung sinnvoll wรคre.
In Gesetzgebungsverfahren zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung wurden zeitweise sogar hรถhere Betrรคge diskutiert, umgesetzt wurden diese Vorschlรคge bislang nicht.
Parallel gibt es Bestrebungen von Kassenverbรคnden, die Modalitรคten der Auszahlung zu verรคndern โ etwa, die Pauschale gebรผndelt erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens auszuzahlen oder den Begriff โunverzรผglichโ abzuschwรคchen. Dem tritt wiederum die Aufsicht โ wie das Bundesamt fรผr Soziale Sicherung โ entgegen und betont den Sanktionscharakter der Regelung.
Fรผr Betroffene bleibt wichtig: Stand November 2025 ist die Rechtslage eindeutig. Die Pflegekasse muss innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen entscheiden. Tut sie das nicht und trรคgt die Verantwortung fรผr die Verzรถgerung, entsteht ein Anspruch auf 70 Euro pro begonnener Woche der Fristรผberschreitung.




