Dieses Urteil zeigt, wie hoch die Hürden für eine Erwerbsminderungsrente sind – selbst bei langjährigen Rückenleiden, Dauerbeschwerden, gescheiterten Arbeitsverhältnissen und wiederholten Anträgen. (Az: L 14 R 1079/20)
Für Betroffene ist der Fall ein Lehrstück: Entscheidend sind nicht Leidensdruck und Lebensgeschichte, sondern die juristische Lesart von Leistungsfähigkeit, Berufsschutz, Gutachtenlage und Reha-Dokumentation.
Inhaltsverzeichnis
Ausgangslage: Schwer krank, aber rechtlich „arbeitsfähig“
Der Kläger, Jahrgang 1966, ist ausgebildeter Verkäufer und Einzelhandelskaufmann. Nach seiner Ausbildung wechselt er in körperlich belastende Tätigkeiten, unter anderem als Produktions- und Imprägnierungsarbeiter. Seit dem Jahr 2000 leidet er unter erheblichen Rückenproblemen, Bandscheibenvorfällen, orthopädischen Beschwerden und später auch Schulterproblemen.
Es folgen Reha-Maßnahmen, langjährige Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung. Mehrfach stellt er Anträge auf Rente wegen Erwerbsminderung und versucht zudem, frühere Entscheidungen über Überprüfungsanträge zu kippen. Seine Argumentation:
Die Gutachten zeigten nur noch „zeitweise“ mögliche Haltungen, seine Leistungsfähigkeit sei deutlich eingeschränkt, seine frühere Tätigkeit entspreche einem höherwertigen Fachberuf, und der Reha-Antrag aus dem Jahr 2000 hätte als Rentenantrag gelten müssen.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen bestätigt die Entscheidung des Sozialgerichts Düsseldorf und weist die Berufung ab. Es sieht weder einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente noch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit noch einen Erfolg der Überprüfungsanträge. Die Revision wird nicht zugelassen.
Zentrale Prüfgröße: Die 6-Stunden-Grenze bei der Erwerbsminderungsrente
Im Mittelpunkt steht § 43 SGB VI. Für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung genügt es nicht, den bisherigen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Entscheidend ist, ob der oder die Betroffene auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch einsetzbar ist und wie viele Stunden täglich noch zumutbar sind.
Nach Auswertung zahlreicher Gutachten über viele Jahre kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger trotz seiner orthopädischen Leiden und einer somatoformen Schmerzstörung leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten kann. Er sei nicht zu schwerem Heben, nicht zu Überkopfarbeiten, nicht zu Tätigkeiten mit Zwangshaltungen, nicht zu dauerndem Stehen oder langem starren Sitzen geeignet.
Gleichwohl seien ausreichend Tätigkeiten denkbar, bei denen Haltungswechsel möglich sind und die körperliche Belastung gering bleibt.
Dieser Befund führt rechtlich dazu, dass keine rentenrechtlich relevante Minderung der Erwerbsfähigkeit angenommen wird. Für Betroffene bedeutet das: Schwere Beschwerden und die Unfähigkeit, den bisherigen Beruf fortzuführen, reichen nicht aus, solange Gutachten eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für andere leichte Tätigkeiten bestätigen.
Allgemeiner Arbeitsmarkt statt letzter Beruf: Die Zumutbarkeit spielt gegen Betroffene
Das Gericht stellt klar, dass der rechtliche Maßstab nicht an der letzten konkreten Tätigkeit ansetzt, sondern an allen Tätigkeiten, die den Kräften und Fähigkeiten der versicherten Person entsprechen und unter üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes vorkommen.
Die Tatsache, dass der Kläger seine frühere Tätigkeit als Imprägnierungsarbeiter nicht mehr ausüben kann, führt deshalb nicht automatisch zu einem Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Solange leichtere, weniger belastende Tätigkeiten mit Bewegungsmöglichkeiten, angepassten Anforderungen und ohne extreme körperliche Belastung theoretisch möglich sind, gilt er als erwerbsfähig.
Berufsschutz verloren: Warum der Kläger nicht als Facharbeiter zählt
Ein Streitpunkt betrifft den Berufsschutz. Der Kläger verweist auf seinen ursprünglich erlernten kaufmännischen Beruf und auf seine Tätigkeit bei der P. GmbH, die er als faktisch facharbeitergleich einstuft. Das Gericht folgt dem nicht. Es ordnet die Tätigkeit als Imprägnierungsarbeiter anhand der Arbeitgeberauskunft als angelernte Tätigkeit ein.
Eine sechsmonatige Einarbeitungszeit, Entlohnung unter Facharbeiterniveau und das Fehlen einer nachweislich facharbeitergleichen Qualifikation über längere Zeit reichen nicht, um Facharbeiterstatus zu begründen.
Zugleich stellt das Gericht fest, dass sich der Kläger von seinem Ausbildungsberuf als Einzelhandelskaufmann gelöst hat, indem er ihn nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgab, sondern dauerhaft andere Tätigkeiten auf Helfer- beziehungsweise Angelerntenniveau ausübte.
Damit entfällt der Berufsschutz aus dem Ausbildungsberuf. Ohne Berufsschutz kann der Kläger auf nahezu jede leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts verwiesen werden.
Für Betroffene ist das eine wesentliche Botschaft: Wer seinen erlernten Beruf dauerhaft verlässt und in niedrigeren Tätigkeitsbereichen arbeitet, schwächt seine Position im Rentenrecht erheblich. Berufsschutz lässt sich nicht nachträglich durch die eigene Bewertung der Tätigkeit „aufwerten“, sondern muss objektiv belegbar sein.
Reha-Antrag und Rentenantragsfiktion: Kein rückwirkender Anspruch
Der Kläger versucht, aus seinem im Jahr 2000 gestellten Reha-Antrag einen rückwirkenden Rentenbeginn herzuleiten. Nach der damals geltenden Fassung des § 116 SGB VI kann ein Reha-Antrag als Rentenantrag gelten, wenn bei Beendigung der Reha bereits Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit vorliegt und die Reha die Einschränkungen nicht behebt.
Das Gericht wertet den Reha-Entlassungsbericht aus dem Jahr 2001 als eindeutig: Zwar wird der Kläger als für die frühere schwere Tätigkeit nicht mehr geeignet beschrieben, zugleich aber als vollschichtig arbeitsfähig für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts.
Damit sind die Voraussetzungen für eine Rentenantragsfiktion nicht erfüllt. Der Reha-Antrag wandelt sich nicht automatisch in einen Rentenantrag, und ein rückwirkender Anspruch ab 2000 scheidet aus.
Für Betroffene ist das von großer praktischer Bedeutung. Reha-Berichte sind Schlüsselunterlagen. Wer eine Erwerbsminderungsrente anstrebt, muss den Inhalt des Entlassungsberichts sehr genau prüfen.
Wird dort eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte Tätigkeiten attestiert, erschwert das spätere Ansprüche erheblich. Korrekturen und Einwände sollten zeitnah erfolgen, nicht viele Jahre später.
Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X: Grenzen der Korrektur alter Bescheide
Der Kläger versucht außerdem, frühere Ablehnungsbescheide über einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X aufzuheben. Diese Norm ermöglicht die Rücknahme bestandskräftiger Bescheide, wenn bei Erlass Rechtsfehler oder falsche Tatsachengrundlagen vorlagen.
Das Gericht sieht jedoch keine Anhaltspunkte für eine falsche Rechtsanwendung oder einen unzutreffenden Sachverhalt. Die damaligen Entscheidungen stützten sich auf mehrere Gutachten und eine umfangreiche Sachverhaltsaufklärung. Dass der Kläger die Bewertung nachträglich anders sieht oder Gutachter kritisiert, reicht nicht aus.
Betroffene sollten daraus ableiten, dass Überprüfungsanträge dann sinnvoll sein können, wenn konkrete objektive Fehler vorliegen, etwa übersehene Beitragszeiten, unzutreffende Rechtsnormen oder gravierende Widersprüche in den medizinischen Feststellungen.
Als Mittel, um abgeschlossene Verfahren ohne neue belastbare Argumente „neu aufzurollen“, eignen sie sich nicht.
Mitwirkungspflicht im Verfahren: Verweigerte Begutachtung schwächt Ansprüche
Ein weiterer Aspekt betrifft die Mitwirkung. In einem der Verfahren erscheint der Kläger nicht zur angeordneten ärztlichen Untersuchung und beruft sich nur auf bereits vorliegende Gutachten. Die Rentenversicherung lehnt den Antrag wegen fehlender Mitwirkung ab, das Gericht bestätigt dies.
Wer Begutachtungen oder medizinische Untersuchungen unbegründet verweigert, riskiert damit die Ablehnung der Leistung.
Für Betroffene bedeutet das: Zweifel an der Neutralität eines Gutachters oder Kritik an einzelnen Stellen im Verfahren müssen rechtzeitig und formal korrekt geltend gemacht werden. Wer schlicht nicht erscheint, ohne alternative Lösungen zu beantragen, verschlechtert seine eigene Rechtsposition.
Kernaussagen für Betroffene: Was dieses Urteil praktisch bedeutet
Dieses Urteil verdeutlicht, dass die Schwelle zur Erwerbsminderungsrente hoch ist und streng nach gesetzlichen Kriterien geprüft wird. Arbeitsunfähigkeit, subjektive Erschöpfung oder der Verlust des letzten Arbeitsplatzes sind nicht entscheidend.
Faktoren sind ein unter sechs Stunden tägliches Leistungsvermögen für alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, ein klar begründeter Berufsschutz und stimmige medizinische Nachweise. Reha-Berichte und Gutachten haben ein enormes Gewicht und müssen früh kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert werden.
Wer seine Erwerbsminderungsrente durchsetzen will, braucht eine saubere Dokumentation, konsequente Mitwirkung, eine realistische Einschätzung der beruflichen Einordnung und – idealerweise frühzeitig – fachkundige Unterstützung im Sozialrecht, bevor sich das Verfahren so verfestigt wie im hier entschiedenen Fall.




