BSG: Fehlt der Vorläufigkeitsvermerk gilt der Bürgergeld-Bescheid als endgültig

Arbeiten, Lohnschwankungen auffangen – und dennoch beim Jobcenter aufstocken müssen: Für viele sogenannte Aufstockerinnen und Aufstocker ist das Alltag, für nicht wenige eine Belastung.

Richtig schwierig wird es, wenn Behördenformalitäten nicht sauber eingehalten werden und Leistungsbeziehende am Ende für Fehler des Amtes geradestehen sollen.

Ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) hat hier einen deutlichen Pflock eingeschlagen: Fehlt bei einem Bescheid der ausdrückliche Vorläufigkeitsvermerk, gilt er als endgültig – mit weitreichenden Folgen für spätere Rückforderungen.

Aufstocken trotz Arbeit: Realität für Hunderttausende

Das Bürgergeld soll den notwendigen Lebensunterhalt sichern, wenn eigenes Einkommen nicht ausreicht. Das betrifft nicht nur arbeitslose Menschen, sondern in erheblichem Umfang auch Erwerbstätige.

Mehr als 825.000 Personen beziehen trotz Job ergänzende Leistungen. Das ist nicht nur ein schlagender Beleg gegen die stereotype Unterstellung mangelnder Arbeitsbereitschaft, sondern verweist auf strukturelle Probleme niedriger Löhne, unregelmäßiger Arbeitszeiten und schwankender Verdienste.

Gerade in Branchen mit Schichtdienst oder Arbeit auf Abruf variiert das Monatseinkommen erheblich – und damit auch der jeweilige Leistungsanspruch.

Der rechtliche Rahmen: Vorläufige Entscheidung nach § 41a SGB II

Um dieser Unsicherheit zu begegnen, sieht das Gesetz die Möglichkeit vorläufiger Bewilligungen vor. Nach § 41a SGB II können Jobcenter Leistungen zunächst auf Basis einer Prognose festsetzen, wenn zentrale Tatsachen – etwa die genaue Höhe des künftigen Einkommens – noch nicht feststehen. Später erfolgt eine abschließende Festsetzung, bei der die tatsächlichen Verhältnisse zugrunde gelegt werden.

Dieses zweistufige Verfahren dient der Liquiditätssicherung der Betroffenen und der Verfahrensökonomie der Verwaltung. Es funktioniert aber nur, wenn die Vorläufigkeit klar erkennbar ist. Fehlt dieser Hinweis, entsteht keine bloße „Schätzung auf Widerruf“, sondern ein vollwertiger, endgültiger Verwaltungsakt mit entsprechendem Vertrauensschutz.

Der konkrete Fall: Arbeit auf Abruf, schwankender Lohn, fehlender Hinweis

Im vom BSG entschiedenen Fall (Az.: B 4 AS 10/20 R) ging es um eine Beschäftigte mit Arbeit auf Abruf, die ihr Einkommen mit Bürgergeld aufstocken musste. Das Jobcenter griff für die Leistungsbewilligung auf vorliegende Verdienstunterlagen zurück und setzte die Leistungen fest, ohne den Bescheid als vorläufig zu kennzeichnen.

Monate später forderte die Behörde 761,81 Euro zurück, weil das tatsächliche Einkommen höher ausgefallen war als prognostiziert. Die Betroffene wehrte sich – zunächst ohne Erfolg –, bis der Fall schließlich die höchste sozialgerichtliche Instanz erreichte.

BSG: Endgültig ist endgültig

Das Bundessozialgericht stellte klar, dass Bewilligungen ohne ausdrücklichen oder konkludenten Vorbehalt der Vorläufigkeit endgültig sind. Wörtlich heißt es: „Es lässt sich den Formulierungen in den Bescheiden weder ausdrücklich noch konkludent entnehmen, dass die Bewilligungen unter dem Vorbehalt ihrer Vorläufigkeit stehen sollten.“

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Zudem betonte das Gericht den Systemfehler solcher Praxis: In Situationen, in denen das Einkommen nur prospektiv – also vorausschauend – geschätzt werden kann, ist die Erteilung eines endgültigen Bescheids „von Anfang an rechtswidrig“. Das bedeutet indes nicht, dass die Betroffenen die Konsequenzen tragen müssen. Im Gegenteil: Fehlende Kennzeichnung der Vorläufigkeit geht zulasten der Behörde, nicht zulasten der Leistungsberechtigten.

Konsequenzen für Rückforderungen

Rückforderungen sind bei vorläufigen Bescheiden im Grundsatz möglich, sobald die abschließende Festsetzung vorliegt und zu einer Überzahlung führt. Fehlt jedoch der Vorläufigkeitsvorbehalt, greift das normale Regime des Verwaltungsrechts. Ein endgültiger, begünstigender Bescheid kann nur unter den strengen Voraussetzungen der Rücknahme- oder Aufhebungsnormen korrigiert werden, die insbesondere Vertrauensschutz und Fristen kennen.

Wo Betroffene keine unrichtigen Angaben gemacht, nichts verschwiegen und keinen rechtsmissbräuchlichen Vorteil gesucht haben, ist ein späteres „Zurückdrehen“ regelmäßig ausgeschlossen. Das BSG-Urteil rückt diesen Grundsatz in den Mittelpunkt: Prognoserisiken, die die Verwaltung bewusst ohne Vorläufigkeitsvermerk in Kauf nimmt, darf sie nicht nachträglich einseitig den Leistungsbeziehenden aufbürden.

Verwaltungspraktische Folgen: Sorgfaltspflicht und saubere Bescheide

Für die Jobcenter bedeutet die Entscheidung, dass sie Vorläufigkeit eindeutig und unübersehbar kenntlich machen müssen, wenn sie auf Schätzgrundlagen arbeiten. Die spätere „Heilung“ einer fehlenden Kennzeichnung durch allgemeine Formeln oder beiläufige Hinweise scheidet aus.

Ebenso wenig genügt es, wenn die Aktenlage intern auf eine vorläufige Betrachtung schließen lässt. Entscheidend ist die objektive Erkennbarkeit im Bescheid selbst. Die Entscheidung stärkt damit nicht nur die Rechtssicherheit, sondern zwingt die Verwaltung zu einer präzisen Verfahrensführung: Prognose bleibt Prognose – und muss als solche benannt werden.

Bedeutung für Aufstockerinnen und Aufstocker: Rechte kennen, Unterlagen prüfen

Für Erwerbstätige mit ergänzendem Bürgergeld ist die Botschaft klar. Sie sollten Bescheide sorgfältig daraufhin prüfen, ob die Vorläufigkeit ausdrücklich vermerkt ist. Fehlt ein solcher Hinweis, handelt es sich rechtlich um eine endgültige Bewilligung. Forderungen, die allein auf späteren Einkommensabweichungen beruhen, sind dann in aller Regel nicht ohne Weiteres durchsetzbar.

Wer Post vom Jobcenter mit Rückforderungsbegehren erhält, sollte deshalb die Bescheidlage genau betrachten und gegebenenfalls fristgerecht Widerspruch einlegen.

Wichtig ist dabei, die Einkommensunterlagen geordnet vorzuhalten und jede Veränderung zeitnah mitzuteilen. Transparenz gegenüber der Behörde bleibt sinnvoll, nimmt aber dem Amt nicht die Pflicht, korrekt zu bescheiden.

Fazit: Urteil für faire Verwaltungspraxis

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts setzt klare Leitplanken. Wer auf Grundlage unsicherer Einkommensprognosen bewilligt, muss die Vorläufigkeit offen ausweisen und später sauber abschließend festsetzen. Unterbleibt dieser Hinweis, entsteht ein endgültiger Bescheid, der nicht nach Belieben korrigiert werden darf.

Für Hunderttausende Aufstockerinnen und Aufstocker bedeutet das mehr Rechtssicherheit in ohnehin prekären Lebenslagen. Für die Jobcenter ist es ein Auftrag, Verfahren rechtskonform zu gestalten – transparent, nachvollziehbar und mit dem gebotenen Respekt vor dem Vertrauensschutz der Bürgerinnen und Bürger.