Grundsicherung statt Bürgergeld: Mehr Macht für die Jobcenter und Totalsanktionen

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Die Diskussion um die Zukunft der Grundsicherung nimmt weitere konkrete Züge an. Während die CDU/CSU ein gänzlich neues Grundsicherungsgesetz fordert, setzt die SPD auf Anpassungen im bestehenden System.

Beide Lager einigten sich Ende August 2025 auf ein Eckpunktepapier, das tief in das Leben von Millionen Bürgergeld-Beziehenden eingreifen würde. Hinter den nüchtern klingenden Begriffen wie „Mitwirkungspflicht“, „Passiv-Aktiv-Transfer“ oder „Schonvermögen“ verbirgt sich eine mögliche Zäsur im deutschen Sozialstaat.

Härtere Sanktionen und noch härtere Strafen

Besonders gravierend ist die Verschärfung der Sanktionspraxis. Bislang waren Kürzungen zwar möglich, aber gedeckelt. Nach dem Karlsruher Urteil von 2019 galt zudem eine Grenze von maximal 30 Prozent, um das Existenzminimum nicht anzutasten.

Künftig jedoch sollen sofortige Kürzungen um 30 Prozent bei bloßen Terminversäumnissen eingeführt werden.

Noch schwerwiegender: Wer wiederholt eine zumutbare Arbeit ablehnt, soll komplett aus dem Leistungsbezug fallen – ein inhumaner Schritt, der faktisch bedeutet, dass Betroffene keinerlei staatliche Sozialleistungen mehr erhalten.

Für Bürgergeld-Bezieher bedeutet dies eine erhebliche Verunsicherung. Schon kleine Versäumnisse im Kontakt mit dem Jobcenter könnten existenzielle Folgen haben. Während ein verpasster Termin bisher allenfalls zu einer vorübergehenden Kürzung führte, droht künftig der unmittelbare Verlust eines Drittels der Leistungen.

Wiederholte Arbeitsverweigerung kann den vollständigen Ausschluss nach sich ziehen – selbst wenn Betroffene dadurch in Obdachlosigkeit oder Hunger geraten.

Vorrang der Vermittlung: Druck auf Arbeitsfähige in schlecht bezahlte Arbeit

Ein weiterer Schwerpunkt des Papiers ist der „Vorrang der Vermittlung“. Alle, die als arbeitsfähig gelten, sollen so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt integriert werden – auch über kurzfristige oder geringqualifizierte Tätigkeiten.

Für die Betroffenen bedeutet das, dass die Zumutbarkeitskriterien enger gefasst werden könnten. Wer eine Stelle ablehnt, weil sie weit entfernt liegt, schlecht bezahlt ist oder nicht zur eigenen Qualifikation passt, riskiert künftig Sanktionen.

Besondere Beachtung soll dabei zwar die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen finden. Doch die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die Umsetzung solcher Ausnahmeregelungen in der Praxis häufig an unklaren Diagnosen, langwierigen Verfahren und überlasteten Jobcentern scheitert. Gerade diese Gruppe ist damit von zusätzlichem Druck bedroht.

Jobcenter mehr Mittel, aber auch mehr Macht

Die Jobcenter sollen gestärkt werden, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Jeder Leistungsbeziehende soll ein individuelles Angebot zur Beratung, Unterstützung und Vermittlung erhalten.

Auf den ersten Blick klingt dies positiv, doch die geplanten Sanktionen könnten dazu führen, dass Beratung nicht als Hilfe, sondern als Zwangsinstrument empfunden wird.

Für Bürgergeld-Beziehende bedeutet das: Wer die Angebote nicht annimmt oder nicht wie gefordert reagiert, riskiert empfindliche Kürzungen bis hin zum totalen Leistungsentzug.

Passiv-Aktiv-Transfer: Fördern oder verpflichten?

Der sogenannte Passiv-Aktiv-Transfer soll gesetzlich verankert und ausgeweitet werden. Gemeint ist damit, dass Gelder, die bisher für passive Leistungen wie den Lebensunterhalt gezahlt wurden, verstärkt in Maßnahmen zur Qualifizierung, Beschäftigung oder Reha fließen.

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Für die Betroffenen könnte dies Chancen bieten – etwa durch Weiterbildungsangebote oder Programme zur Gesundheitsförderung.

Gleichzeitig erhöht es aber den Druck: Wer sich weigert, an diesen Maßnahmen teilzunehmen, verliert unter Umständen seine Ansprüche.

Schonvermögen und Unterkunftskosten: Ende der Karenzzeiten

Eine weitere einschneidende Änderung betrifft das Schonvermögen. Bislang gab es eine Karenzzeit, in der Ersparnisse oder auch hohe Wohnkosten unberücksichtigt blieben.

Künftig soll das Schonvermögen an die „Lebensleistung“ gekoppelt werden, die Karenzzeit entfällt.

Das bedeutet konkret: Menschen, die erst kürzlich in die Arbeitslosigkeit geraten sind, müssten möglicherweise sofort ihre Rücklagen angreifen, bevor sie Anspruch auf volle Leistungen haben.

Auch bei den Unterkunftskosten fällt die Karenzzeit weg, wenn diese als „unverhältnismäßig hoch“ eingestuft werden. Betroffene müssten sich damit kurzfristig nach einer günstigeren Wohnung umsehen oder mit Leistungskürzungen rechnen. Angesichts angespannter Wohnungsmärkte, gerade in Ballungsgebieten, könnte dies für viele in einer sozialen Sackgasse enden.

Folgen für Bürgergeld-Beziehende

Die geplanten Änderungen hätten für Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfänger mehrere Konsequenzen: Sie müssten jederzeit mit sofortigen und drastischen Kürzungen rechnen, selbst bei kleineren Versäumnissen. Der Druck, auch schlecht bezahlte oder unpassende Jobs anzunehmen, würde steigen. Rücklagen, die eigentlich für Notfälle gedacht sind, könnten schneller aufgebraucht werden müssen.

Zudem droht durch die Streichung der Karenzzeit bei Wohnkosten ein erheblicher Druck auf Mieterinnen und Mieter, die in Wohnungen über dem festgelegten „Angemessenheitsniveau“ leben.

Kurz gesagt: Das Sozialleistungssystem würde stärker auf Kontrolle, Druck und Disziplinierung setzen – mit dem Ergebnis, Menschen nicht aus der Armut zu führen, sondern tiefer hinein.

Verfassungsrechtlich nicht haltbar?

Die zentrale juristische Frage lautet: Darf das Existenzminimum vollständig gestrichen werden?

Das Bundesverfassungsgericht hat dies 2019 klar verneint. Mit den geplanten 100-Prozent-Sanktionen würde die Politik dennoch genau diesen Schritt gehen. Kritiker sprechen daher von einem bewussten Verfassungsbruch. Sollte das Gesetz in dieser Form verabschiedet werden, ist ein neuerlicher Gang nach Karlsruhe nahezu unausweichlich.

Dazu der Sozialrechtsexperte und Erwerbslosenberater Harald Thomé von Tacheles e.V. : “Eine solche Ignoranz gegenüber höchstrichterlichen Entscheidungen ist kein Novum: Sie wurde bereits von Alexander Dobrindt erprobt, ist aus den USA bekannt – und wird nun auch von der SPD mitgetragen. Daher sollte man das Gesetz auch beim Namen nennen – Verfassungsbruchanordnungsgesetz.”

Wie gehts weiter?

Noch ist offen, ob der Referentenentwurf im September oder Oktober vorgelegt wird. Sicher ist jedoch, dass die Reform das Potenzial hat, das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in den Sozialstaat nachhaltig zu erschüttern. Denn das Prinzip der Grundsicherung soll eigentlich Sicherheit bieten – nicht Angst vor existenziellen Strafen.

Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich populistische Härte oder verfassungsrechtliche Grenzen durchsetzen und ob die SPD willens ist, dagegen zu halten.