Schwerbehinderung: Historische Änderungen beim Grad der Behinderung (GdB) in 2025

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Die Bundesregierung überarbeitet die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) grundlegend. Ziel ist es, die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) moderner, einheitlicher und stärker an der tatsächlichen Teilhabe auszurichten.

Der entsprechende Entwurf einer „Sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung“ wurde 2025 breit mit Ländern und Verbänden konsultiert; am 14. August 2025 ging die Verordnung als Bundesratsdrucksache 353/25 offiziell in das Länderkammer-Verfahren.

Bis zum Inkrafttreten sind daher noch die Beschlussfassungen im Bundesratsverfahren und die anschließende Verkündung abzuwarten.

Warum diese Reform jetzt kommt

Die VersMedV stammt im Kern aus dem Jahr 2008. Seither haben sich medizinische Erkenntnisse, verfügbare Therapien und Hilfsmittel ebenso weiterentwickelt wie der rechtliche Rahmen für Inklusion und Teilhabe. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 in Kraft gesetzt; sie verpflichtet den Staat, Barrieren abzubauen und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu sichern.

Die Reform greift diesen Paradigmenwechsel auf, indem sie den Blick weg vom reinen „Defizit“ hin zu den tatsächlichen Teilhabeeinschränkungen lenkt.

Was soll geändert werden? Übersicht in einer Tabelle

Reformbereich Geplante Änderung 2025
Moderner Behinderungsbegriff (UN-BRK) Behinderung wird als Wechselwirkung langfristiger Beeinträchtigungen mit gesellschaftlichen Barrieren verstanden; Teilhabeeinschränkung wird zentrales Kriterium.
Biopsychosoziales Modell Bei der Bemessung von GdB/GdS werden biologische, psychologische und soziale Faktoren standardmäßig berücksichtigt.
Bundesweit einheitliche Begutachtung Verbindliche, einheitliche Grundsätze für alle Bundesländer; Abbau regionaler Bewertungsunterschiede.
Sachverständigenbeirat Beirat Versorgungsmedizin wird neu aufgestellt und stärkt die kontinuierliche Weiterentwicklung der Begutachtungsgrundsätze.
Heilungsbewährung Regelungen werden von Teil B nach Teil A verlagert und inhaltlich präzisiert; vereinfachter Umgang mit zeitlich begrenzten Gesundheitsfolgen.
Bildung des Gesamt-GdB Keine Addition oder Mittelung mehr; wesentlich ist eine tatsächliche Verstärkung des Gesamtbilds (regelmäßig mindestens +10 Punkte); leichte Funktionsstörungen werden klarer einbezogen.
Hilfsmittel Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Rollstuhl, Hörgerät) führt nicht pauschal zu einer Absenkung des GdB; maßgeblich bleibt die Teilhabewirkung.
Keine generelle Befristung GdB wird nicht generell befristet; keine pauschalen Verschlechterungen bei der Feststellung der Behinderung.
Aktualisierung Teil B (Einzel-GdB) Überarbeitung der Einzel-GdB-Tabellen wird vorbereitet und in thematischen Arbeitsgruppen fortgeführt.
Teilhabeorientierung Gesamtverfahren wird konsequent auf Inklusion und selbstbestimmte Lebensführung ausgerichtet.

Ein moderner Behinderungsbegriff: Von der Diagnose zur Teilhabe

Der Entwurf stellt klar, dass Behinderung als Wechselwirkung zwischen langfristigen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren verstanden wird. Das orientiert sich an den Begrifflichkeiten der WHO-Systematik (ICF) und an der UN-BRK.

Entscheidend ist künftig stärker, welche Auswirkungen eine Gesundheitsstörung im Alltag und in der Lebensführung hat – nicht nur, welche Diagnose vorliegt.

Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) betont ausdrücklich die „teilhabeorientierte“ Überarbeitung und die Anpassung an den medizinischen Fortschritt.

Einheitliche Maßstäbe in allen Bundesländern

Immer wieder beklagten Betroffene uneinheitliche Begutachtungsmaßstäbe zwischen den Ländern. Mit der Reform werden die „Gemeinsamen Grundsätze“ in Teil A der VersMedV präzisiert und bundeseinheitlich verankert.

Zugleich ist der Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin neu zusammengesetzt und formal gestärkt worden; er berät das BMAS kontinuierlich bei der Fortentwicklung der Grundsätze.

Das Ministerium veröffentlichte 2024 eine aktualisierte Mitgliederliste – ein Hinweis darauf, dass die institutionellen Voraussetzungen für eine laufende, qualitätsgesicherte Weiterentwicklung geschaffen sind.

Heilungsbewährung: Systematisch neu verortet und präzisiert

Besonders relevant für Menschen nach einer Krebserkrankung ist die sogenannte Heilungsbewährung. Die Reform fasst die Regeln hierzu künftig zentral in Teil A der Grundsätze zusammen und präzisiert den Umgang mit zeitlich begrenzten Gesundheitsfolgen.

Das schafft Transparenz, weil allgemeine Grundsätze und Ausnahmen an einer Stelle geregelt sind, statt wie bisher verstreut in Teil B zu stehen. Auch Stellungnahmen von Sozialverbänden bestätigen diese Neuordnung.

Der Gesamt-GdB: Weg von der Rechenaufgabe, hin zur Wirkungsanalyse

Besonders umstritten war in der Praxis die Bildung des Gesamt-GdB bei mehreren Gesundheitsstörungen. Die Reform schreibt fest, dass keine mathematische Addition oder Mittelung erfolgt. Maßgeblich ist, ob weitere Beeinträchtigungen das „Gesamtbild“ der Teilhabeeinschränkung wesentlich verstärken.

Als wesentlich gilt regelmäßig eine Erhöhung um mindestens zehn Punkte; sehr leichte Funktionsstörungen werden berücksichtigt, ohne dass sie automatisch zu großen Sprüngen führen. Damit rückt die Wirkung im Alltag in den Mittelpunkt und nicht die schlichte Summierung von Einzel-Werten. Entsprechende Leitgedanken finden sich in Behördendokumenten und begleitenden Materialien von Ländern.

Hilfsmittel und Therapien: Kein pauschaler Abzug vom GdB

Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt der Reform ist der Umgang mit Hilfsmitteln und Behandlungserfolgen. Verbände begrüßen, dass der Nutzen von Hilfsmitteln – etwa Rollstuhl, Hörgerät oder Insulinpumpe – nicht pauschal zu einer Absenkung des GdB führen soll. Entscheidend bleibt die kausale Behinderung und ihre Teilhabewirkung, nicht die Annahme einer „optimalen Versorgung“ im Idealfall.

Das stärkt die Realitätsnähe der Begutachtung, weil Hilfsmittel zwar kompensieren können, die zugrunde liegende Beeinträchtigung aber nicht verschwinden lassen.

Keine generellen Verschlechterungen – aber viel Bedarf an Auslegungssicherheit

Sozialverbände halten fest, dass mit der Neufassung von Teil A keine flächendeckenden Absenkungen der GdB-Werte beabsichtigt sind. Zugleich fordern sie erläuternde Materialien, um die Anwendung in der Praxis zu vereinheitlichen, und warnen davor, die ICF misszuverstehen: Sie liefert ein Ordnungssystem, ersetzt aber nicht die juristisch gebotene Einzelfallprüfung.

Was die Änderungen für Betroffene praktisch bedeuten

Für Menschen mit mehreren Beeinträchtigungen erhöht die Reform die Chance, dass die wechselseitige Verstärkung ihrer Einschränkungen sachgerecht erfasst wird. Wer etwa bislang zwei Einzel-Werte von jeweils 20 hatte, konnte früher in der Praxis mitunter auf 40 „addieren“.

Künftig wird stärker geprüft, ob die zweite Beeinträchtigung das Gesamtbild tatsächlich wesentlich verschärft; der Gesamt-GdB steigt regelmäßig dann, wenn sich die Teilhabeumstände spürbar verändern.

Das schützt vor rein rechnerischen Ergebnissen – und sichert zugleich Aufstufungen dort, wo die Lebenswirklichkeit dies erfordert. Für Nutzerinnen und Nutzer von Hilfsmitteln ist wichtig, dass der GdB nicht „abgewertet“ wird, nur weil eine technische Kompensation vorhanden ist; maßgeblich bleibt, wie die Teilhabe trotz Hilfsmittel real gelingt.

Kritik und offene Fragen

Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt von “Gegen-Hartz” begrüßt den Paradigmenwechsel hin zu Teilhabe und UN-BRK-Konformität ausdrücklich. Zugleich bleibt aus seiner Sicht eine Leerstelle: “Die Verordnung selbst definiert keine neuen Standards für die Versorgung mit Hilfsmitteln; sie regelt die Begutachtung, nicht die Leistungsgewährung.”

Für Betroffene wäre eine stärkere Verzahnung mit der Hilfsmittel- und Reha-Versorgung hilfreich, damit rechtliche Anspruchsgrundlagen und medizinische Bewertung noch besser ineinandergreifen.

Parallel arbeitet der neu aufgestellte Sachverständigenbeirat an Aktualisierungen von Teil B („Einzel-GdB“), die in thematischen Arbeitsgruppen vorbereitet werden. Hier entscheidet sich, wie einzelne Krankheits- und Funktionsbilder künftig bewertet werden – ein Bereich, den Verbände aufmerksam begleiten.

Zeitplan und Verfahren

Das BMAS hat den Referentenentwurf am 18. Dezember 2024 veröffentlicht und in den Monaten April/Mai 2025 umfangreiche Stellungnahmen von Ländern und Verbänden eingeholt.

Mit der Einbringung als BR-Drucksache 353/25 Mitte August 2025 ist das förmliche Verfahren in der Länderkammer gestartet. Der konkrete Inkrafttretenszeitpunkt hängt nun von Beratung, Beschluss und der anschließenden Verkündung ab.

Bis dahin gilt die bisherige Rechtslage fort. Wer in dieser Phase Anträge stellt oder Widerspruchs- und Klageverfahren führt, sollte die Übergangsfragen mit Blick auf den maßgeblichen Bewertungszeitpunkt im Auge behalten.

Was schwerbehinderte Betroffene jetzt beachten sollten

Für Antragstellerinnen und Antragsteller bleibt zentral, ihre Teilhabesituation umfassend zu dokumentieren. Ärztliche Befunde sind wichtig, reichen aber allein nicht aus, um die Auswirkungen auf Mobilität, Kommunikation, Erwerbsleben und soziale Teilhabe zu verdeutlichen.

Alltagsschilderungen, Arbeitsplatz- und Schulbescheinigungen, Reha- und Therapieberichte sowie Angaben zur Ermüdung, zu Schmerzverläufen oder zur Erreichbarkeit ohne fremde Hilfe helfen, die neue Teilhabe-Perspektive mit Leben zu füllen.

Im Übergang empfiehlt sich außerdem, Bescheide und Fristen sorgfältig zu prüfen, denn der Zeitpunkt der Entscheidung kann darüber bestimmen, ob bereits neue Grundsätze zu berücksichtigen sind.

Fazit

Die Reform der Versorgungsmedizin-Verordnung sind ein wichtiger Schritt hin zu einer realitätsnäheren, gerechteren und bundesweit einheitlichen GdB-Feststellung. Der Wechsel – weg von der Diagnose, hin zur Wirkung auf die Teilhabe – entspricht der UN-BRK und reagiert auch auf den Stand der heutigen Medizin.

Ob die ambitionierten Ziele im Alltag ankommen, wird davon abhängen, wie konsequent die Behörden die neuen Grundsätze anwenden, wie verständlich Teil B fortgeschrieben wird und ob flankierende Verfahren – etwa bei der Hilfsmittelversorgung – ebenfalls Hürden abbauen.

Bis zur finalen Beschlussfassung bleibt es Aufgabe aller Beteiligten, den Fokus auf Transparenz, Nachvollziehbarkeit und die Lebenswirklichkeit der Betroffenen zu richten.