Bei der EM-Rente kann der Schwerbehindertenausweis richtig Gold wert sein

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Auf den ersten Blick wirken das Feststellungsverfahren nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch und das Rentenverfahren nach ยง 43 SGB VI wie streng getrennte Dinge. Das eine untersucht den Grad der Behinderung (GdB), das andere die quantitative Leistungsfรคhigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Doch spรคtestens seit der jรผngsten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und mehrerer Landessozialgerichte im Jahr 2025 steht fest: Wer den Schwerbehindertenausweis in einem Verfahren um die Erwerbsminderungsrente ignoriert, riskiert nicht nur Aufklรคrungsmรคngel, sondern womรถglich den Verlust des gesamten Anspruchs.

Gesetzlicher Rahmen: ยง 43 SGB VI verknรผpft Krankheit und Behinderung

Der entscheidende Brรผckenschlag steckt im Gesetz selbst. ยง 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI benennt ausdrรผcklich โ€žKrankheit oder Behinderungโ€œ als Ursache einer rentenbegrรผndenden Erwerbsminderung.

Damit gehรถrt die funktionsbezogene Bewertung des Versorgungsamts zwingend zum rentenrechtlichen Prรผfprogramm, auch wenn der GdB-Wert als solcher die Stunden-Grenze von drei beziehungsweise sechs Stunden nicht ersetzt.

Feststellung der Schwerbehinderung: SGB IX als Informationsquelle fรผr das Rentenrecht

รœber die Brรผcke fรผhrt ยง 152 SGB IX. Die Vorschrift verpflichtet die Versorgungsbehรถrden, Art und Umfang der Funktionsbeeintrรคchtigung festzuhalten.

Diese Akte ist reich an fachรคrztlichen Gutachten, Reha-Berichten und Testbefunden โ€“ Material, das im Rentenverfahren hรคufig fehlt, weil Haus- und Fachรคrzte ihre Stellungnahmen verkรผrzen oder auf Nachfrage der Deutschen Rentenversicherung (DRV) gar nicht erst antworten.

Wer die Schwerbehindertenakte beizieht, erweitert somit das medizinische Fundament des EM-Verfahrens erheblich.

Aktuelle Rechtsprechung 2024/25: Gerichte erhรถhen die Messlatte

Das BSG hat am 6. Juli 2025 klargestellt, dass rรผckwirkende Feststellungen der vollen Erwerbsminderung sozialhilferechtlichen Mehrbedarf ebenfalls rรผckwirkend auslรถsen; der Anspruch knรผpft an den realen Eintritt der Erwerbsminderung an โ€“ nicht an den Bescheidzeitpunkt der DRV. Die Entscheidung zeigt, wie eng Rente, Behinderung und Existenzsicherung heute verzahnt sind.

Bereits am 12. Dezember 2024 hatte der 9. Senat des BSG (B 9 SB 2/24 R) die Latte fรผr die Beweislast im Schwerbehindertenrecht hรถher gelegt und die Versorgungsmedizin-Verordnung als verbindlichen MaรŸstab betont.

GdB-Herabsetzung gestoppt: LSG Berlin-Brandenburg stรคrkt Bestandsschutz
Am 10. Juni 2025 entschied das LSG Berlin-Brandenburg (L 11 SB 24/23), dass eine Behรถrde den GdB nicht einseitig herabsetzen darf, solange sie keine eindeutige medizinische Verbesserung nachweist.

Die Beweislast bleibt vollstรคndig beim Amt. Fรผr Rentenverfahren bedeutet das: Eine einmal anerkannte Schwerbehinderung darf nicht stillschweigend relativiert werden, um die Erwerbsminderung in Frage zu stellen.

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Neue Hรผrden bei psychischen Erkrankungen: LSG Baden-Wรผrttemberg rรผckt die Alltagsbewรคltigung in den Mittelpunkt

Noch kontroverser wird das Bild durch das Urteil des LSG Baden-Wรผrttemberg vom 18. Mรคrz 2025 (L 13 R 276/22).

Danach genรผgt bei psychischen Leiden nicht mehr der Nachweis einer reduzierten Arbeitsfรคhigkeit; die Erkrankung mรผsse โ€ždie gesamte Lebensfรผhrung รผbernommen habenโ€œ.

Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt sieht darin “eine faktische Verschรคrfung des ยง 43 SGB VI, die psychisch Erkrankte doppelt trifft: Sie mรผssen ihre Behinderung umfassender beweisen und gleichzeitig darlegen, dass kein Restarbeitsvermรถgen von sechs Stunden mehr besteht.”

Konsequenzen: Amtsermittlungspflicht und Aktenbeiziehung

Gerichte sind von Amts wegen zur vollstรคndigen Sachaufklรคrung verpflichtet (ยง 103 SGG). Wird die Schwerbehindertenakte nicht beigezogen, obwohl eine Behinderung naheliegt, liegt ein VerstoรŸ gegen diese Pflicht vor.

In der Praxis veranlasst das hรคufig eine Zurรผckverweisung an die DRV oder das Sozialgericht, was das Verfahren um Jahre verzรถgern kann.

Strategische Bedeutung fรผr Versicherte und Berater

Die aktuelle Rechtsprechung macht den Schwerbehindertenausweis zum juristischen Hebel. Er liefert objektivierte Befunde, belegt Chronizitรคt und Umfang der Funktionsstรถrungen und zwingt die DRV, ihre Einschรคtzung der Leistungsfรคhigkeit an konsistente medizinische Daten anzupassen.

Anwรคlte und Rentenberater nutzen die Akte, um Lรผcken in rentenรคrztlichen Gutachten zu schlieรŸen, abweichende Diagnosen aufzudecken und die Prognosefrage schlรผssiger zu beantworten. Ohne diese Unterlagen droht, dass psychische oder internistische Dauerschรคden im Begutachtungs-Raster der Rentenversicherung untergehen.

Wo der Gesetzgeber nachjustieren kรถnnte

Der Gesetzgeber hat 2024 die Versorgungsmedizin-Verordnung รผberarbeitet und eine Aktualisierung bis Ende 2025 angekรผndigt. Verbรคnde fordern, dass die neuen Kriterien stรคrker an den Teilhabebegriff des Bundesteilhabegesetzes anknรผpfen, damit gerade psychische und kombinierte Leistungseinschrรคnkungen eindeutiger bewertet werden kรถnnen.

Ob der Bundestag zudem eine Klarstellung im Wortlaut des ยง 43 SGB VI vornimmt, um die jรผngsten LSG-Entscheidungen einzufangen, bleibt abzuwarten.

Fรผr Betroffene heiรŸt das: Unterlagen sichten, Akten beiziehen und jede Feststellung im Schwerbehindertenverfahren strategisch fรผr das Rentenverfahren nutzbar machen โ€“ denn im Jahr 2025 trennt das Recht ร„pfel und Birnen lรคngst nicht mehr so strikt wie einst gedacht.