Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Wรผrttemberg hat unter dem Aktenzeichen L 5 R 3093/24 entschieden, dass ein Vater, der seinen pflegebedรผrftigen Sohn 28 Stunden pro Woche zu Hause versorgte, keine zusรคtzlichen Rentenpunkte erhรคlt, weil sein alter Arbeitsvertrag eine Wochenarbeitszeit von mehr als 30 Stunden vorsah und sein Krankengeld darauf basierte. Damit genieรt der Mann trotz intensiver Pflegeleistung keinen rentenrechtlichen Schutz.
Die Vorgeschichte: Pflege als Familienaufgabe und Rentenrecht
Rund 3,1 Millionen Pflegebedรผrftige in Deutschland werden รผberwiegend von Angehรถrigen betreut.
Fรผr diese Gruppe soll eine seit 2017 geltende Regelung verhindern, dass private Fรผrsorge zur Altersarmut fรผhrt: Unter bestimmten Bedingungen zahlt die Pflegekasse Rentenbeitrรคge fรผr die Pflegeperson.
Voraussetzung ist unter anderem, dass die Pflege mindestens zehn Stunden pro Woche umfasst und die Pflegende nicht mehr als 30 Stunden erwerbstรคtig ist.
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Was das Landesozialgericht entschied
Im jetzt entschiedenen Fall trafen gelebte Praxis und Papierwirklichkeit hart aufeinander. Der Vater war krankgeschrieben, arbeitete tatsรคchlich nicht mehr und widmete sich vollkommen der Pflege.
Weil er aber Krankengeld aus einem Vertrag mit 30-plus-Stunden-Klausel bezog, stufte das Gericht ihn als โregelmรครig voll erwerbstรคtigโ ein. Die Pflegekasse meldete die Pflegezeit daher nicht an die Rentenversicherung; Klage und Berufung blieben erfolglos.
Die Begrรผndung: Wenn Vertrรคge schwerer wiegen als gelebte Realitรคt
Die Richter sahen in ยง 3 Satz 3 SGB VI eine klare Grenze: รberschreitet die vertraglich vereinbarte Erwerbszeit 30 Stunden, entsteht keine zusรคtzliche Rentenversicherungspflicht aus Pflege.
Ob tatsรคchlich gearbeitet wird oder Krankengeld flieรt, spiele keine Rolle. Begrรผndet wurde dies mit dem Argument der โDoppelabsicherungโ: Krankengeldbezieher seien bereits รผber Pflichtbeitrรคge aus dem Krankengeld rentenversichert; eine zweite Absicherung รผber die Pflege solle vermieden werden.
Wer nun besonders gefรคhrdet ist
Gefรคhrdet sind alle, die Angehรถrige pflegen, wรคhrend sie formell in einem Vertrag mit mehr als 30 Wochenstunden gebunden sind โ etwa Menschen in Langzeit-Krankschreibung, Kurzarbeit oder befristeter Freistellung. Auch wer einen Teilzeitvertrag knapp รผber der Schwelle von 30 Stunden hat, riskiert den Verlust der Pflege-Rentenpunkte, selbst wenn er seine Arbeitszeit faktisch reduziert.
Stimmen aus Verbรคnden und Rentenversicherung
Die Deutsche Rentenversicherung weist in aktuellen Hinweisen darauf hin, dass die 30-Stunden-Grenze den Gesetzeswillen widerspiegele, nur diejenigen zusรคtzlich zu fรถrdern, die ihre Erwerbstรคtigkeit wegen der Pflege spรผrbar einschrรคnken.
Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt kritisiert dagegen, dass “die Regelung an der Lebensrealitรคt vorbeigeht, weil sie Menschen bestraft, die krankheitsbedingt gar nicht mehr arbeiten kรถnnen.”
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Handlungsempfehlung fรผr Pflegepersonen
Pflegepersonen sollten vor Beginn einer lรคngerfristigen Pflege unbedingt ihre vertragliche Arbeitszeit prรผfen und gegebenenfalls auf 30 Stunden oder weniger anpassen lassen.
Wer bereits pflegt, kann sich von der Deutschen Rentenversicherung oder den Pflegestรผtzpunkten beraten lassen, ob freiwillige Beitrรคge oder eine Teilrente Versorgungslรผcken schlieรen. Eine lรผckenlose Dokumentation der Pflegezeiten und frรผhzeitige Klรคrung mit der Pflegekasse sind unverzichtbar.
Das Urteil hat Debatten รผber die Angemessenheit der 30-Stunden-Grenze neu entfacht. Befรผrworter sehen darin einen klaren, administrativ handhabbaren Maรstab.
Kritiker fordern eine flexible Lรถsung, die tatsรคchliche Erwerbszeiten berรผcksichtigt und Pflege wรคhrend Krankengeldbezugs nicht abstraft. Verbรคnde wie der Sozialverband VdK sprechen von einem โRealitรคtscheckโ fรผr das Pflegesystem. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf wird zunehmend laut, zumal die Zahl pflegender Angehรถriger kontinuierlich steigt.
Revision zugelassen
Das LSG hat Revision zum Bundessozialgericht zugelassen. Die Entscheidung des hรถchsten deutschen Sozialgerichts in Kassel kรถnnte Leitplanken fรผr die kรผnftige Auslegung der 30-Stunden-Regel setzen.