Menschen, die bereits seit der Kindheit oder Jugend vollständig erwerbsgemindert sind, haben unter bestimmten Voraussetzungen früheren Zugang zur Erwerbsminderungsrente (EM-Rente). Statt der üblichen fünf Jahre Beitragszeit reicht in diesen Fällen ein Versicherungszeitraum von 20 Jahren.
Grundlage ist eine Sonderregelung im Sechsten Sozialgesetzbuch (§ 43 Abs. 6 SGB VI). Besonders profitieren Beschäftigte in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM).
Inhaltsverzeichnis
Sonderregel für dauerhaft Erwerbsgeminderte
Die reguläre Wartezeit von fünf Jahren entfällt, wenn die volle Erwerbsminderung bereits vor Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen bestand. In diesem Fall genügt ein Beitragszeitraum von 240 Kalendermonaten – also 20 Jahre – mit Pflicht oder freiwilligen Rentenbeiträgen. Die Voraussetzung: Die volle Erwerbsminderung muss seit der Kindheit oder Jugend medizinisch anerkannt sein.
Werkstattzeiten zählen vollständig – auch bei Minigehältern
Beschäftigungszeiten in WfbM werden vollständig auf die Wartezeit angerechnet. Entscheidend ist nicht die Höhe des gezahlten Lohns, sondern eine gesetzliche Aufstockung durch den Bund (§ 179 SGB VI). Für die Rentenberechnung wird angenommen, die versicherte Person habe 80 % des durchschnittlichen Einkommens aller Beschäftigten verdient (2025: West = 3.676 €, Ost = 3.615 €). Das führt zu deutlich höheren Rentenpunkten – selbst bei real niedrigem Werkstattlohn.
Zurechnungszeit: Fiktive Arbeitsjahre bis fast zur Rente
Bei der Berechnung der Rentenhöhe wird nicht nur das tatsächliche Arbeitsleben berücksichtigt. Zusätzlich zählen sogenannte Zurechnungszeiten: Dabei wird angenommen, die betroffene Person habe bis zur gesetzlichen Altersgrenze weitergearbeitet – obwohl das real nicht möglich war. Bei Rentenbeginn im Jahr 2025 endet diese Zurechnungszeit mit 66 Jahren und 2 Monaten, ab 2031 mit dem 67. Geburtstag. Diese Regelung führt zu einer spürbaren Erhöhung der Rentenansprüche.
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Rechenbeispiel: So viel Rente kann entstehen
Ein typisches Beispiel zeigt die Wirkung dieser Regelung. Wer 25 Jahre in einer Werkstatt beschäftigt war, erhält dafür etwa 25 Entgeltpunkte. Hinzu kommen – über die Zurechnungszeit – weitere 20 Punkte. Bei einem aktuellen Rentenwert von 40,79 € im Westen ergibt das:
> 45 Entgeltpunkte × 40,79 € × 0,892 (Abschlag) = ca. 1.643 € brutto monatlich
Dabei ist ein pauschaler Rentenabschlag von 10,8 % bereits eingerechnet, der bei Rentenbeginn vor dem Alter von 64 Jahren und 3 Monaten greift.
Hinzuverdienst möglich – aber begrenzt
Auch während des Bezugs einer vollen EM-Rente ist ein begrenzter Hinzuverdienst erlaubt. Ab dem Jahr 2025 dürfen Betroffene bis zu 19.661 € brutto pro Jahr hinzuverdienen, ohne dass die Rente gekürzt wird (§ 96a SGB VI). Werkstattlöhne bleiben in der Regel unterhalb dieser Grenze, sodass die Beschäftigung in einer WfbM weitergeführt werden kann.
Antragstellung: Der Weg zur EM-Rente
Der Antrag auf volle Erwerbsminderungsrente erfolgt bei der Deutschen Rentenversicherung. Notwendig sind:
- Das Formular R0100 (Antrag auf Versichertenrente)
- Die Anlage R0210 zur Feststellung der Erwerbsminderung
- Ärztliche Gutachten oder Reha-Berichte
- Optional: Stellungnahme der Werkstatt oder ein Sozialbericht
Nach Eingang prüft die Rentenversicherung den Antrag und veranlasst bei Bedarf eine medizinische Begutachtung. Wird die Rente bewilligt, erfolgt zunächst eine Befristung auf maximal drei Jahre. Die Verlängerung kann bei unveränderter Erwerbsminderung beantragt werden – am besten sechs Monate vor Ablauf der Frist.
Weitere Leistungen zur Existenzsicherung
In vielen Fällen reicht die EM-Rente nicht aus, um den Lebensunterhalt zu decken. Hier greift die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII. Bürgergeld nach SGB II ist für Rentenbeziehende nur in Ausnahmefällen noch relevant.
Zudem bleiben Werkstattbeschäftigte weiterhin sozialversichert, auch während des Rentenbezugs. Das betrifft sowohl die Kranken als auch die Pflegeversicherung.
Wichtige Tipps für Antragsteller und Angehörige
Beitragslücken schließen: Wer keine vollen 20 Beitragsjahre erreicht, kann mit freiwilligen Mindestbeiträgen (ab 2025: 100,07 €/Monat) die Wartezeit erfüllen.
Gutachten gezielt vorbereiten: Eine chronologische Sammlung relevanter Befunde erleichtert die medizinische Begutachtung.
Beratung nutzen: Unterstützung bieten Rentenberater, Sozialverbände wie VdK oder SoVD sowie Integrationsfachdienste.
Frühe Absicherung für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen
Die Sonderregelung zur Erwerbsminderungsrente bei frühzeitiger Behinderung ermöglicht Betroffenen trotz fehlender regulärer Erwerbsbiografie eine stabile finanzielle Absicherung. Gerade für Werkstattbeschäftigte lohnt sich der Rentenantrag – auch bei niedrigen tatsächlichen Löhnen. Durch Aufstockungsmechanismen und Zurechnungszeiten fällt die Rente oft höher aus als erwartet.