Wer vorzeitig in Rente geht, akzeptiert dauerhaft einen geringeren Zugangsfaktor – und damit eine niedrigere Rente. Zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) definieren seitdem die Linie, wann diese Abschläge später bei der Regelaltersrente verschwinden dürfen und wann nicht. 2017 stellte der 13. Senat klar: Sind die Leistungen der vorgezogenen Altersrente der Rentenkasse vollständig von einem Haftpflichtversicherer erstattet worden, darf die anschließende Regelaltersrente ohne Abschläge berechnet werden.
Der 5. Senat zog die Grenze: Nach einer Erwerbsminderungsrente mit Abschlag bleibt der geminderte Zugangsfaktor in der Regelaltersrente bestehen, wenn es keine vollständige Erstattung dieser Leistungen an den Rentenversicherungsträger gab. Damit ist die Rechtslage deutlich konturiert – und für Betroffene planbar.
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Präzedenzfall: Abschläge verschwinden, wenn die Kasse wirtschaftlich schadlos ist
Dem Urteil vom 13. Dezember 2017 lag ein Verkehrsunfall zugrunde. Der Kläger hatte von März 2006 bis Mai 2010 eine vorzeitige Altersrente mit Abschlag bezogen. Bei Übergang in die Regelaltersrente rechnete die Rentenversicherung trotzdem mit dem abgesenkten Zugangsfaktor 0,847 weiter – obwohl der Haftpflichtversicherer die gesamten vorzeitig gezahlten Rentenbeträge an den Rentenversicherungsträger erstattet hatte.
Das BSG sah darin eine planwidrige Regelungslücke und wandte § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB VI analog an: Wenn die Rentenkasse die vorgezogenen Leistungen vollständig zurückerhält, gilt die vorzeitige Altersrente für den späteren Übergang so, als wäre sie wirtschaftlich nicht in Anspruch genommen worden. Folge: Der Zugangsfaktor der Regelaltersrente springt auf 1,0.
§ 77 SGB VI und der Zugangsfaktors
§ 77 SGB VI regelt, wie der Zugangsfaktor die Rentenhöhe beeinflusst. Grundsätzlich „perpetuiert“ das Gesetz den einmal festgelegten Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die bereits Grundlage einer früheren Rente waren. Nur dort, wo eine Rente „nicht vorzeitig in Anspruch genommen“ wurde, steigt der Zugangsfaktor schrittweise an.
Der 13. Senat hat diese Ausnahmegedanken auf Fälle vollständiger Erstattung übertragen, weil die Versichertengemeinschaft finanziell nicht belastet bleibt. Genau an dieser ökonomischen Betrachtung hängt die Analogie.
Keine Erstattung – keine Abschlagsbefreiung nach EM-Rente
Am 19. Dezember 2024 entschied der 5. Senat einen anders gelagerten Fall. Die Klägerin hatte nach einem Unfall eine Erwerbsminderungsrente mit Zugangsfaktor 0,892 bezogen. Später verlangte sie eine abschlagsfreie Regelaltersrente mit Verweis auf 2017.
Der Haken: Der Haftpflichtversicherer erstattete dem Rentenversicherungsträger lediglich entgangene Beiträge, nicht aber die an die Klägerin gezahlten EM-Rentenbeträge. Das BSG verneinte deshalb eine analoge Anwendung und ließ den geminderten Zugangsfaktor fortwirken. Ohne vollständige Erstattung der Leistungsbeträge bleibt die frühere Rente als „in Anspruch genommen“ bestehen; die Abschläge gehen in die Regelaltersrente über.
Was die beiden Urteile zusammen bedeuten
Beide Entscheidungen folgen derselben Systematik, setzen aber an unterschiedlichen Tatsachen an. Maßgeblich ist nicht die Art der vorangegangenen Rente allein, sondern die wirtschaftliche Kompensation. Wurde die vorgezogene Altersrente im Regressweg voll erstattet, entfällt der Abschlag in der Regelaltersrente.
Fehlt diese vollständige Erstattung – wie in dem Fall der Erwerbsminderungsrente 2024 –, bleibt der verminderte Zugangsfaktor bestehen. Der rote Faden ist der Schutz der Versichertengemeinschaft vor Mehrbelastung und die konsequente Fortschreibung des Zugangsfaktors nur dann, wenn ein vorzeitiger Leistungsbezug tatsächlich „verbraucht“ worden ist.
Praktische Folgen für Versicherte und ihre Berater
Für Betroffene heißt das: Wer aufgrund eines fremdverschuldeten Schadensereignisses vorzeitig Rentenleistungen erhält, sollte die Frage des Rentenregresses früh klären. Nur wenn die vollständige Erstattung der vorzeitig gezahlten Rentenbeträge an den Rentenversicherungsträger gelingt, kann die spätere Regelaltersrente ohne Abschlag berechnet werden.
Eine Erstattung bloßer Beiträge reicht nicht. Entscheidend ist, ob die Rentenkasse am Ende wirtschaftlich so steht, als hätte sie nichts zahlen müssen. Andernfalls wird der reduzierte Zugangsfaktor aus der Vorleistung – ob Alters- oder Erwerbsminderungsrente – in der Regelaltersrente fortgeschrieben.
Blick in die Begründung
Der 13. Senat hat 2017 die analoge Anwendung von § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB VI damit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber die besondere Konstellation der vollständigen Dritt-Erstattung nicht ausdrücklich geregelt habe. Weil die Rentenkasse in dieser Sondersituation nicht belastet wird, fehle es an dem Grund, den abgesenkten Zugangsfaktor in die Zukunft fortzuschreiben.
Der 5. Senat betont 2024 spiegelbildlich, dass eine Analogie ausscheidet, wenn genau diese wirtschaftliche Gleichstellung fehlt. Selbst wenn Regresschritte unterblieben sind oder nur teilweise zum Erfolg führten, bleibt es dann bei der gesetzlichen „Perpetuierung“ des geminderten Zugangsfaktors.
Fazit: Richtungsweisend – mit klarer Grenze
Das BSG-Urteil von 2017 ist und bleibt richtungsweisend für Fälle voll erstatteter vorzeitiger Altersrenten: Die Regelaltersrente ist dann ohne Abschlag zu berechnen. Das Urteil vom 19. Dezember 2024 markiert zugleich die klare Grenze für Erwerbsminderungsrenten ohne vollständige Leistungserstattung: Der Abschlag wandert weiter. Beide Entscheidungen ergeben zusammen eine konsistente Linie, die die Balance zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Kollektivschutz hält – und Betroffenen wie Beratungspraxis eindeutige Anhaltspunkte für die Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen liefert.
Rechtliche Quellen: § 77 SGB VI (Zugangsfaktor) und die Urteilsbesprechungen/Entscheidungsdokumente zu BSG B 13 R 13/17 R sowie BSG B 5 R 9/23 R (19.12.2024).




