Sozialhilfe: Umkehr der Beweislast: Sozialamt muss beweisen, dass Mietkosten unangemessen sind

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Umkehr der Beweislast- Das Sozialamt muss die Ermittlung der abstrakten Angemessenheitsgrenze seiner Mietkosten beweisen

Mit wegweisendem Beschluss gibt die 13.Kammer des Sozialgerichts Aurich bekannt, dass das Sozialamt die objektive Beweislast dafรผr trรคgt, dass die dem Leistungsberechtigten tatsรคchlich entstehenden Kosten fรผr Unterkunft und Heizung nicht angemessen sind ( SG Aurich, Beschluss v. 09.10.2025 – S 13 SO 95/25 ER – ).

Objektive Beweislast liegt beim Sozialhilfetrรคger

Die Richter der 13. Kammer des Sozialgerichts Aurich haben fest gestellt, dass das Sozialamt den von ihm den Leistungen zugrunde gelegten Betrag fรผr die angemessen Unterkunftskosten nicht nachvollziehbar ermittelt hat und damit besteht ein Anspruch auf Erhalt von Leistungen unter Zugrundelegung der tatsรคchlichen Unterkunftskosten fรผr die Sozialhilfeempfรคngerin.

Die Verantwortlichkeit fรผr die Ermittlung der abstrakten Angemessenheitsgrenze liegt unter Zugrundelegung der obergerichtlichen Rechtsprechung in der Sphรคre des Sozialamtes. Werte fรผr die abstrakte Angemessenheit kann eine Leistungsempfรคngerin nicht von sich aus ermitteln und belegen. Dies ist nur dem Leistungstrรคger mรถglich.

Umkehr der Beweis- und damit Darlegungs- wie Glaubhaftmachungslast im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes

Es besteht somit eine Umkehr der Beweis- und damit Darlegungs- wie Glaubhaftmachungslast im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, da eine besondere Beweisnรคhe eines Beteiligten besteht. Der Sozialhilfetrรคger hat die in seinem Verantwortungsbereich liegende Vorgรคnge aufzuklรคren und die zeitnahe Aufklรคrung des Sachverhaltes zu ermรถglichen. (vgl. hierzu SG Landshut, Beschluss vom 16. Juli 2024 – S 7 AS 166/24 ER; BSG, Urteil vom 15. Juni 2016 – B 4 AS 41/15 R; Urteil vom 10.9.2013 – B 4 AS 89/12 R -).

Nach stรคndiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kรถnnen die Tabellenwerte zu ยง 12 WoGG zuzรผglich eines Sicherheitszuschlags nur unter bestimmten Voraussetzungen herangezogen werden

Das Bundessozialgericht geht seit vielen Jahren in stรคndiger Rechtsprechung davon aus, dass vorrangig die abstrakte Angemessenheit der Unterkunftskosten durch ein schlรผssiges Konzept zu ermitteln ist.

Nur unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Leistungstrรคger die Tabellenwerte zu ยง 12 WoGG zuzรผglich eines Sicherheitszuschlags zur Begrenzung der angemessenen Kosten heranziehen. Zwingende Voraussetzung der Zugrundelegung dieser Betrรคge ist, dass lokale Erkenntnismรถglichkeiten nicht mehr oder niemals zur Verfรผgung standen. (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 50/09 R; ebenso bereits Urteil vom 7.11.2006 – B 7 B AS 18/06 R ). Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gilt: Das Gericht muss nicht die abstrakte Angemessenheitsgrenze des Sozialamtes ermitteln

Die im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens wohl erforderliche Aufforderung des Leistungstrรคgers zur Nachbesserung bzw. erstmaligen Erstellung eines Konzeptes (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 2. September 2021 – B 8 SO 13/19 R unter Verweis auf BSG vom 3.9.2020 – B 14 AS 37/19 R -) verbietet sich im hier zu bewertenden Eilverfahren schon aus Grรผnden der zeitlichen Dauer einer solchen Ermittlung.

Eine eigene Ermittlung des Gerichts bezรผglich der abstrakten Angemessenheitsgrenze im Bereich des Grundsicherungstrรคgers verbietet sich ebenfalls im Rahmen des hier zu bewertenden Eilverfahrens aus diesem Grunde.

AuรŸerdem sind nach zutreffender Auffassung des Bundessozialgerichts die Gerichte zwar zur Herstellung der Spruchreife der Sache verpflichtet, aber nicht befugt, ihrerseits ein schlรผssiges Konzept – ggf mit Hilfe von Sachverstรคndigen – zu erstellen. (BSG, Urteil vom 2. September 2021 – B 8 SO 13/19 R -).

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock

Diese bemerkenswerte Entscheidung lรคsst sich 1:1 auf das Bรผrgergeld รผbertragen.

Der Trรคger der Grundsicherung fรผr Arbeitssuchende trรคgt die objektive Beweislast dafรผr, dass die dem Leistungsberechtigten tatsรคchlich entstehenden Kosten fรผr Unterkunft und Heizung nicht angemessen sind.

Eine Begrenzung der gemรครŸ ยง 22 Abs. 1 SGB II anzuerkennenden Kosten der Unterkunft auf die Hรถchstwerte nach ยง 12 WoGG zuzรผglich eines Zuschlags von 10% kommt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in Betracht, wenn nicht glaubhaft ist, dass sich fรผr den streitigen Zeitraum und den Vergleichsraum keine hinreichenden Feststellungen zu den abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft mehr treffen lassen oder dass eine noch durchzufรผhrende Ermittlung der Grenzen fรผr die abstrakte Angemessenheit durch den Trรคger der Grundsicherung fรผr Arbeitssuchende hรถchstens die Werte nach ยง 12 WoGG zuzรผglich eines Zuschlags von 10% ergeben wird.

Der Grundsatz der Umkehr der Beweislast ist mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Gebot effektiven Rechtschutzes und das hieraus vom Bundessozialgericht abgeleitete โ€žGebot der Sozialrechtsoptimierungโ€œ โ€“ wonach bei der Auslegung auch des Verfahrensrechts eine mรถglichst weitgehende Verwirklichung der sozialen Rechte sicherzustellen ist โ€“ auf die Prรผfung der abstrakten Angemessenheit von Kosten der Unterkunft dahingehend anzuwenden, dass demjenigen, der Leistungen nach dem SGB II begehrt, nicht die fehlende Aufklรคrbarkeit von Tatsachen auรŸerhalb seiner Verantwortungssphรคre zu Last fallen darf (Obergerichtliche Rechtsprechung ).

Wegen der Frage, ob eine Wohnung zu einem bestimmten Preis abstrakt vorhanden ist, trifft deshalb den Trรคger der Grundsicherung/ Jobcenter die objektive Beweislast.

Denn dieser ist fรผr die Ermittlung der abstrakten Grenze der Angemessenheit verantwortlich, wohingegen die Ermittlung demjenigen, der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beantragt, regelmรครŸig nicht mรถglich ist.