Schwerbehinderung: Wegweisendes Urteil zum Kündigungsschutz

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In einem wegweisenden Urteil hat das Arbeitsgericht Freiburg den Kündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer deutlich ausgeweitet. Die Richter erklärten die Entlassung eines städtischen Angestellten für unwirksam, weil die Stadt das vorgeschriebene Präventionsverfahren unterließ – und das bereits während der Probezeit.

Diese Entscheidung markiert einen Paradigmenwechsel im Schwerbehindertenrecht.

Hintergrund: Kündigung ohne Präventionsverfahren

Der klagende Sachbearbeiter war seit Oktober 2023 bei der Stadt Freiburg beschäftigt und hatte seine Schwerbehinderung mit einem Grad von 50 bereits im Bewerbungsprozess offengelegt. Im Februar 2024 erhielt er überraschend die Kündigung, ohne dass zuvor das nach § 167 Abs.1 SGB IX verpflichtende Präventionsverfahren eingeleitet wurde.

„Arbeitgeber müssen von Beginn an alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Konflikte mit schwerbehinderten Beschäftigten zu lösen“, betont die ver.di Rechtsschutzexpertin Dr. Anna Bergmann. Die Gewerkschaft vertrat den Kläger und argumentierte erfolgreich mit europarechtlichen Vorgaben zur Antidiskriminierung.

Rechtsbruch mit Signalwirkung

Das Gericht wertete das Unterlassen des Präventionsverfahrens als schwerwiegenden Verfahrensfehler. „Der Schutzgedanke des SGB IX entfaltet seine Wirkung unmittelbar mit Arbeitsantritt“, heißt es in der Urteilsbegründung vom 4. Juni 2024 (Aktenzeichen 2 Ca 51/24).

Diese Auslegung stellt die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) infrage, die den Verfahrensanspruch erst nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit gewährte.

Rechtsexperten sehen darin eine konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. „Das Urteil macht klar: Diskriminierungsschutz darf keine Wartefrist kennen“, erklärt Prof. Julian Weber vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Arbeitgeber müssen nun bereits bei den ersten Anzeichen von Konflikten das Integrationsamt und die Schwerbehindertenvertretung einbinden.

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Praktische Folgen für Unternehmen

Die Entscheidung zwingt Arbeitgeber zum Umdenken in der Personalpraxis. Personalverantwortliche müssen künftig:

  • Risikoanalysen innerhalb der ersten vier Wochen durchführen
  • Individuelle Arbeitsplatzprofile erstellen
  • Schulungen für Führungskräfte implementieren

„Viele unterschätzen, dass Präventionspflichten bereits bei psychosozialen Belastungen greifen“, warnt Arbeitsrechtlerin Clara Sommerfeld. Verstöße gegen das Verfahren lösen automatisch die Unwirksamkeit von Kündigungen aus – unabhängig vom eigentlichen Kündigungsgrund.

Ausblick: Bundesweite Rechtsangleichung erwartet

Obwohl die Stadt Freiburg Revision angekündigt hat, rechnen Beobachter mit einer Bestätigung der Rechtsprechung. Das Bundesarbeitsgericht steht unter Druck, seine restriktive Linie an europäische Vorgaben anzupassen. Parallel plant die Bundesregierung eine Novellierung des SGB IX, um Rechtssicherheit herzustellen.

Für schwerbehinderte Beschäftigte bedeutet die Entwicklung konkret: Sie können sich künftig von Anfang an auf verstärkten Kündigungsschutz verlassen. Arbeitgeber hingegen müssen ihre Onboarding-Prozesse überprüfen und präventive Unterstützungsangebote ausbauen.