Außergewöhnliche Gehbehinderung ohne 80er-Schwelle? Keine Chance. Mit einem aktuellen Urteil (LSG Berlin‑Brandenburg, 21.02.2024, Az.: L 11 SB 197/22) stellt das Landessozialgericht klar: Das Merkzeichen „aG“ gibt es nur, wenn die mobilitätsbezogenen Beeinträchtigungen insgesamt einem GdB von mindestens 80 entsprechen.
Gleichzeitig betont der Senat den engen Prüfungszeitraum bei GdB‑Herabsetzungen nach § 48 SGB X – spätere Verschlechterungen helfen für das laufende Verfahren nicht.
Worum ging es?
Eine 1981 geborene Frau mit infantiler Zerebralparese (spastische Diparese, linksbetont) war seit 2009 mit GdB 100 und dem Merkzeichen „aG“ anerkannt. Nach neuen Gutachten senkte die Behörde 2020 den GdB auf 80 und entzog „aG“. Das Sozialgericht gab der Klägerin teilweise recht – das LSG hob diesen Teil auf: Die Absenkung und der Entzug waren rechtmäßig.
Das sind die juristischen Leitplanken
§ 48 SGB X statt § 45 SGB X: Herabsetzungen stützen sich auf geänderte Verhältnisse. Nur wenn der alte Bescheid von Anfang an rechtswidrig war, greift § 45 SGB X.
Maßgeblicher Zeitraum: Für die Rechtmäßigkeit der Absenkung zählt allein die Spanne zwischen Bekanntgabe des Bescheids und Widerspruchsbescheid (im Fall: 29.02.2020 bis 22.05.2020). Was danach schlechter wird, ist anderweitig geltend zu machen (Neufeststellung).
Versorgungsmedizinische Grundsätze: Bei ICP sind die Maßstäbe zu Hirnschäden/Teillähmungen anzuwenden. Ein Einzel‑GdB 60 für die Beine kann sachgerecht sein, selbst bei deutlich gestörtem Gangbild.
Der Dreh- und Angelpunkt: „aG“ braucht mobilitätsbezogenen GdB ≥ 80
Der Senat folgt der strengen Linie des Bundessozialgerichts: „aG“ ist ein Nachteilsausgleich nur für Extremfälle. Entscheidend ist nicht die abstrakte Wegstrecke, sondern unter welchen Bedingungen sich Betroffene außerhalb des Fahrzeugs fortbewegen können – häufig nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung ab den ersten Schritten.
Im konkreten Fall ergab die Gesamtschau:
Bei den unteren Extremitäten wurde ein Einzel-GdB von 60 festgestellt: spastische Symptomatik, ein breitbasiges, kleinschrittiges, aber insgesamt noch gehfähiges Gangbild.
Ein Wirbelsäulenleiden ist allenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, ohne dass sich dadurch der mobilitätsbezogene Anteil erhöht. Psychische und weitere Begleiterkrankungen wirken sich auf die Mobilität nicht steigernd aus.
Fazit: Mobilitätsbezogen < 80 → kein „aG“. Eine Addition (60 + 20 = 80) ist verboten; es zählt die Gesamtauswirkung, nicht das Rechnen mit Teil‑GdB.
Was bedeutet das für Betroffene?
Auch wer (weiter) GdB 80 oder 90 hat, bekommt „aG“ nur, wenn gerade die Mobilität im versorgungsärztlichen Sinn die 80er‑Schwelle erreicht. Viele Begleitdiagnosen bringen dafür wenig: Sie müssen die Gehfähigkeit tatsächlich so einschränken, dass Hilfe oder massive Anstrengung praktisch ab dem ersten Schritt notwendig ist.
So sichern Sie Ihre Ansprüche
Wichtig ist eine lückenlose, konkrete Dokumentation der Mobilität. Ärzten sollten Gehstrecken, Pausen, Erschöpfung, Stürze, Rollstuhlbedarf auch für sehr kurze Wege, Nutzung von Gehhilfen und Tagesformschwankungen festhalten.
Bloße Verordnungen reichen nicht – entscheidend ist die tatsächliche Angewiesenheit. Verschlechtert sich der Zustand erst nach dem Widerspruchsbescheid, stellen Sie zusätzlich einen Neufeststellungsantrag. Diese Entwicklung wirkt nicht ins laufende Anfechtungsverfahren zurück.
Prüfen Sie Alternativen: „G“, „B“ oder steuerliche Nachteilsausgleiche bleiben oft bestehen. Für Parkerleichterungen zählt jedoch nur „aG“.
Was wurde entschieden? | Was heißt das für Betroffene? |
„aG“ setzt mobilitätsbezogenen GdB ≥ 80 voraus. | Starke Gangstörung allein genügt nicht, wenn die mobilitätsbezogene Gesamtauswirkung unter 80 bleibt. |
Addition von Teil‑GdB ist unzulässig. | Es zählt die versorgungsärztliche Gesamtschau, nicht das Rechenmodell. |
§ 48 SGB X: Absenkung bei geänderter Sachlage. | Die Behörde darf absenken – wenn sich die Verhältnisse wesentlichverändert haben. |
Enger Prüfungszeitraum (Bescheid ↔︎ Widerspruchsbescheid). | Spätere Verschlechterungen nur über Neufeststellungdurchsetzbar. |
ICP‑Fall: Beine Einzel‑GdB 60, weiterhin gehfähig. | „G“ kann bleiben; „aG“ entfällt, weil mobilitätsbezogen < 80. |
Redaktionelle Einordnung
Das Urteil schafft Klarheit und setzt der oft gehörten Erwartung „hoher Gesamt‑GdB = automatisch ‚aG‘“ eine Grenze. Für Betroffene bedeutet das: Die Qualität der medizinischen Begründung wird noch wichtiger – insbesondere zur Gehfähigkeit im Alltag.
Für Behörden ist es Rückenwind, Herabsetzungen auf einen nachvollziehbaren Zeitraum zu stützen. Und für die Praxis gilt: Wer „aG“ behalten oder neu bekommen will, muss die 80er‑Schwelle auf die Mobilität bezogen substanziell belegen.