Bürgergeld: Muss das Jobcenter eine Zahnspange als Mehrbedarf zahlen?

Das Landessozialgericht (LSG) Sachsen hat klargestellt, dass Jobcenter die Kosten für eine medizinisch nicht notwendige Zahnspange nicht übernehmen müssen (Az: L 3 AS 91/17).

Der konkrete Fall: Wenn Kasse und Amt „nein“ sagen

Ausgangspunkt des Verfahrens war die Klage einer Bürgergeld-Empfängerin aus Chemnitz, deren 13-jährige Tochter eine Zahnspange erhalten sollte. Die zuständige Krankenkasse, die IKK Classic, lehnte eine Kostenübernahme ab, weil die Fehlstellung nicht den Schweregrad erreiche, ab dem eine kieferorthopädische Behandlung als medizinisch notwendig gilt.

Die Familie wandte sich daraufhin an das Jobcenter und beantragte Unterstützung aus Mitteln des Bürgergelds. Doch auch dort blieb der Wunsch erfolglos.

Das Amt stellte darauf ab, dass es sich um eine kosmetische Maßnahme handele, für die sozialrechtlich kein Anspruch bestehe. Die Mutter klagte – ohne Erfolg, zunächst vor dem Sozialgericht Chemnitz und anschließend vor dem LSG Sachsen.

Medizinische Notwendigkeit?

Ob die gesetzliche Krankenversicherung zahlt, entscheidet sich bei Minderjährigen maßgeblich nach den kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Dieses von Fachärztinnen und Fachärzten entwickelte System ordnet Zahn- und Kieferfehlstellungen in fünf Schweregrade ein.

Ab Grad drei gilt eine Behandlung in der Regel als medizinisch notwendig. Liegt der Befund darunter, handelt es sich aus Sicht der Kassen nicht um eine zwingende Therapie. Genau hier setzte die Argumentation im Chemnitzer Fall an: Wenn die Krankenkasse die medizinische Notwendigkeit verneint, bleibt für eine nachrangige Finanzierung durch das Jobcenter regelmäßig kein Raum.

Mehrbedarf nur in Härtefällen

Juristisch drehte sich das Verfahren um § 21 Absatz 6 SGB II. Diese Norm erlaubt es, in besonderen Härtefällen einen sogenannten Mehrbedarf anzuerkennen. Der Gesetzgeber hat dafür zwei Hürden formuliert: Der Bedarf muss sowohl „besonders“ als auch „unabweisbar“ sein. Nach Auffassung des LSG Sachsen ist beides bei einer nicht medizinisch notwendigen Zahnspange nicht erfüllt.

„Besonders“ ist ein Bedarf nur dann, wenn er nur eine relativ kleine Gruppe von Leistungsberechtigten betrifft. Kieferorthopädische Behandlungen im Jugendalter sind demgegenüber weit verbreitet.

Schon deshalb fehlt es an der Atypik, die einen Härtefall prägen würde. Zudem ist der Bedarf nicht „unabweisbar“, wenn die Krankenkasse die Notwendigkeit verneint und alternative, weniger aufwendige Maßnahmen in Betracht kommen. Das Gericht sah daher keinen Anlass, ausnahmsweise öffentliche Mittel einzusetzen.

Ist Ihr Bürgergeld-Bescheid korrekt?

Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.

Bescheid prüfen

Einordnung: Was das Urteil für Familien bedeutet

Das sächsische Urteil hat eine klare Botschaft: Bürgergeld ist kein Ersatz für Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und keine zweite Finanzierungsschiene für Behandlungen, die medizinisch nicht geboten sind. Familien, deren Kinder knapp an der Schwelle zur Kassenleistung vorbeischrammen, müssen damit rechnen, die Kosten einer rein ästhetisch motivierten Korrektur selbst zu tragen.

Spielräume innerhalb des Krankenversicherungsrechts

Auch wenn das Jobcenter nicht einspringt, eröffnet das Krankenversicherungsrecht eigene Wege. Entscheidend ist eine sorgfältige fachliche Bewertung der Fehlstellung. Weichen Einschätzungen voneinander ab, kann eine zweite zahnärztlich-kieferorthopädische Meinung sinnvoll sein.

Grundlage der Entscheidung der Kassen ist regelmäßig ein Heil- und Kostenplan, der aus medizinischer Sicht begründet, warum eine Behandlung erforderlich ist.

Je präziser die Diagnostik und je deutlicher die funktionellen Beeinträchtigungen belegt sind, desto größer ist die Chance, die Einstufung in einen erstattungsfähigen Schweregrad zu erreichen. Wo die Kasse Alternativen anregt, sollten diese geprüft werden, etwa funktionsorientierte Maßnahmen, die ohne umfassende Spangenbehandlung auskommen.

Beratung, Rechtsschutz und pragmatische Wege

Eltern, die eine Ablehnung der Krankenkasse oder des Jobcenters erhalten, sollten die Bescheide sorgfältig prüfen. Fristen für Widerspruch und Klage laufen in der Regel ab Zustellung und sind strikt einzuhalten.

Unabhängige Sozialberatungsstellen, Patientenberatungen sowie Fachanwältinnen und Fachanwälte für Sozialrecht können die Erfolgsaussichten einschätzen und bei der Formulierung von Rechtsmitteln helfen.

Parallel kann es sinnvoll sein, mit der behandelnden Praxis über gestaffelte Behandlungspläne, kostengünstigere Alternativen oder Zahlungsmodalitäten zu sprechen. Manche Praxen bieten Ratenzahlungen an; auch Stiftungen oder kommunale Förderprogramme unterstützen in Einzelfällen, insbesondere wenn funktionelle Einschränkungen drohen und die Einkommenslage angespannt ist.

Fazit

Das LSG Sachsen zieht eine klare Linie: Ohne medizinische Notwendigkeit gibt es weder Geld von der Krankenkasse noch vom Jobcenter für eine Zahnspange. Der Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II bleibt Härtefällen vorbehalten, die aus dem Rahmen des Üblichen fallen und keine Ausweichmöglichkeiten zulassen.

Für Familien heißt das, die medizinische Begründung in den Vordergrund zu stellen, Behandlungsalternativen ernsthaft zu prüfen und Bescheide rechtzeitig überprüfen zu lassen. Rechtssicherheit entsteht so nicht durch Kulanz, sondern durch nachvollziehbare Kriterien – zum Schutz der Versichertengemeinschaft ebenso wie zur Wahrung der Zweckbindung des Bürgergelds.