In diesem Fall ging es um die Frage, ob das Jobcenter die Kosten für ein Widerspruchsverfahren gegen einen fehlerhaften Leistungsbescheid tragen muss (AZ: S 16 AS 333/21).
Der Fall im Überblick
Am 2. Oktober 2020 erhielt die Klägerin zusammen mit ihren minderjährigen Kindern einen Bescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Bürgergeld). Dabei wurde ihr Einkommen fälschlicherweise mit 1.400 Euro brutto angegeben, obwohl es tatsächlich nur 907,20 Euro betrug.
Sie legte daraufhin Widerspruch ein, der am 29. Oktober 2020 zu einer Änderung des Bescheids führte. Die Erstattung der Kosten für das Widerspruchsverfahren auf Antrag wurden zugesichert.
Am 5. November 2020 stellte der Anwalt der Klägerin einen entsprechenden Antrag auf Kostenfestsetzung.
Da das Jobcenter bis Mai 2021 nicht reagierte, erhob die Klägerin eine Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Darmstadt, um das Jobcenter zu einer Entscheidung zu zwingen.
Ablehnung der Kostenerstattung durch das Sozialgericht
Das Jobcenter reagierte am 18. Mai 2021 und erließ einen Kostenfestsetzungsbescheid, mit dem die Widerspruchskosten erstattet werden sollten. Nachdem der Rechtsstreit damit formal erledigt war, beantragte die Klägerin zusätzlich, ihre außergerichtlichen Kosten erstattet zu bekommen.
Das Sozialgericht Darmstadt lehnte diesen Antrag jedoch am 29. Dezember 2021 ab. Das Gericht argumentierte, dass eine Kostenerstattung nicht zwingend geboten sei und alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien, nicht nur der Erfolg der Klage.
Schadensminderungspflicht als Hauptargument
Das Sozialgericht wies darauf hin, dass die formalen Voraussetzungen für die Untätigkeitsklage zwar erfüllt waren, dies jedoch nicht automatisch eine Kostenübernahme begründe. Es sei entscheidend, ob die Behörde durch ihr Verhalten die Klage notwendig gemacht habe.
Die Klägerin hätte sich vor der Klageerhebung an das Jobcenter wenden müssen, um eine Lösung zu finden. Diese Pflicht zur erneuten Kontaktaufnahme ergebe sich aus der Schadensminderungspflicht und der gegenseitigen Rücksichtnahme im Sozialrechtsverhältnis.
Da die Klägerin diese erneute Kontaktaufnahme unterlassen hatte, sah das Gericht dies als Verstoß gegen ihre Schadensminderungspflicht. Eine einfache Nachfrage hätte eine kostengünstigere Lösung bringen können. Das Gericht stufte die Klage daher als mutwillig ein.
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Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht
Die Klägerin legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein. Sie berief sich auf eine Verletzung des Willkürverbots nach Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Artikel 19 Absatz 4 GG.
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Entscheidung des Sozialgerichts gegen das Willkürverbot verstieß, weil die Rechtsanwendung nicht nachvollziehbar war.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hob den Beschluss des Sozialgerichts auf. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts war die Anwendung von § 193 SGG durch das Sozialgericht fehlerhaft. Grundsätzlich richtet sich die Kostenübernahme bei einer zulässigen Untätigkeitsklage nach § 193 SGG und soll nach billigem Ermessen erfolgen.
In diesem Fall war die gesetzliche Frist für eine Entscheidung durch das Jobcenter abgelaufen, ohne dass ein ausreichender Grund für die Verzögerung vorlag.
Das Sozialgericht hatte verlangt, dass die Klägerin sich erneut an das Jobcenter wenden sollte, bevor sie Klage einreichte. Diese Forderung wurde vom Bundesverfassungsgericht als gesetzlich unbegründet angesehen.
Weder § 88 SGG noch § 193 SGG setzen eine solche Nachfrage voraus. Das Ermessen des Sozialgerichts sei daher in unvertretbarer Weise ausgeübt worden.
Keine Pflicht zur Sachstandsanfrage vor Klageerhebung
Das Bundesverfassungsgericht machte klar, dass es keine allgemeine Pflicht zur Sachstandsanfrage gibt, bevor eine Untätigkeitsklage erhoben wird. Das Gesetz verlangt von Leistungsempfängern keine erneute Kontaktaufnahme mit der Behörde, wenn diese ihrer Pflicht nicht rechtzeitig nachkommt. Auch historische oder systematische Begründungen für eine solche Pflicht sind nicht erkennbar.
Prinzip von Treu und Glauben und die Wartefrist
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Klageerhebung nach Ablauf der gesetzlich festgelegten Wartefrist nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt. Wenn der Gesetzgeber eine Frist vorgibt, muss die Behörde diese einhalten.
Betroffene müssen nicht erneut auf den Ablauf hinweisen oder eine Nachfrist setzen. Das Argument, dass eine wohlhabendere Partei anders gehandelt hätte, ist nicht nachvollziehbar, da eine anwaltliche Vertretung nicht automatisch auf Mutwilligkeit schließen lässt.
Eine Pflicht zur Nachfrage könnte nur unter sehr speziellen Umständen bestehen, was das Sozialgericht jedoch nicht überzeugend darlegte. Das Gericht hatte auch keine spezifischen Umstände des Falls angeführt, die eine Mutwilligkeit der Klage hätten belegen können.
Kritik an der Begründung des Sozialgerichts
Das Bundesverfassungsgericht kritisierte die Entscheidung des Sozialgerichts, da keine konkreten Anhaltspunkte für ein missbräuchliches Verhalten der Klägerin vorlagen. Die bloße Behauptung, dass die Klägerin eine bestehende Rechtsposition genutzt habe, um einen Gebührenvorteil zu erzielen, sei nicht ausreichend, um eine Mutwilligkeit der Klage zu begründen.
Rückverweisung an das Sozialgericht Darmstadt
Das Bundesverfassungsgericht hob den Beschluss des Sozialgerichts auf und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Darmstadt zurück. Das Land Hessen wurde angewiesen, der Klägerin die notwendigen Auslagen des Verfahrens zu erstatten.
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik und Sportmedizin studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention und im Reha-Sport für Menschen mit Schwerbehinderungen tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht und Gesundheitsprävention. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und Behindertenberatung.