Bürgergeld-Bezieherin erreicht Mehrbedarf für Schuhe vom Jobcenter

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Ein ungewöhnlicher Fall aus Hamburg zeigt, wie eng medizinische Probleme und soziale Absicherung miteinander verknüpft sein können. Eine 56-jährige Bürgergeld-Empfängerin hat vor dem Sozialgericht Hamburg erreicht, dass ihr ein laufender zusätzlicher Betrag gewährt wird, weil eine neurologische Erkrankung ihre Schuhe in kurzer Zeit untragbar macht.

Das Gericht verpflichtete das Jobcenter, einen monatlichen Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II anzuerkennen.

Der Fall verdeutlicht, wie wichtig es ist, krankheitsbedingte Besonderheiten bei der Berechnung von Leistungen zu berücksichtigen – und wo die Zuständigkeit von Jobcenter und Krankenkasse verläuft.

Folgen bei jedem Schritt

Die Klägerin leidet unter einer neurologischen Störung, die zu Fehlstellungen der Beine, Sprunggelenke und Füße führt. In der Folge ist ihr Gangbild deutlich verändert: Es handelt sich um einen sogenannten ataktischen Gang, bei dem Bewegungen unsicher, unkoordiniert und schwankend sind.

Was für Außenstehende zunächst nur wie ein unsicherer Gang wirken mag, hat für die Frau handfeste finanzielle Folgen. Durch die Fehlbelastung nutzt sich das Innere ihrer Schuhe in ungewöhnlich kurzer Zeit ab. Handelsübliche Damenschuhe sind bereits nach ein bis zwei Monaten so stark beschädigt, dass sie nicht mehr tragbar sind.

Ärztliche Atteste bestätigten dieses Bild. Mehrere behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie ein Amtsarzt beschrieben den untypischen, innerseitigen Verschleiß der Schuhe. Damit stand fest: Die Klägerin benötigt deutlich häufiger neue Straßenschuhe als gesunde Menschen – und dies nicht aus modischen Gründen, sondern aus gesundheitlichen Gründen, um überhaupt sicher laufen zu können.

Merkosten für alltägliche Schuhe

Die Zahlen, die die Frau dem Gericht vorlegte, sprechen eine deutliche Sprache. Innerhalb von etwa fünf Monaten musste sie vier Paar Schuhe erwerben. Insgesamt gab sie dafür 256,84 Euro aus. Rechnet man diese Beträge auf einen längeren Zeitraum um, wird deutlich, dass die üblichen Pauschalen im Bürgergeld-Regelsatz für Bekleidung und Schuhe bei ihr nicht ausreichen.

Statistische Berechnungen zeigten, dass der durchschnittliche monatliche Bedarf für Damenschuhe bei 5,30 Euro liegt. Bei der Klägerin ergab sich hingegen ein monatlicher Schuhbedarf von 24,76 Euro. Die Differenz von 19,46 Euro stellt nach Auffassung des Gerichts einen zusätzlichen, stetig wiederkehrenden Bedarf dar, der über das hinausgeht, was mit dem Regelsatz abgedeckt ist.

Genau diesen Mehrbetrag muss das Jobcenter nun monatlich als Mehrbedarf zahlen. Für den gesamten Bewilligungszeitraum summiert sich das auf 116,76 Euro.

Vom Jobcenter zur Krankenkasse – und zurück

Zunächst hatte das Jobcenter den Antrag der Frau abgelehnt. Die Begründung: Die Klägerin solle sich an ihre Krankenkasse wenden. Dort stieß sie jedoch auf die nächste Hürde.

Die Krankenkasse erklärte, dass sie lediglich die Kosten für Hilfsmittel trage. Darunter fallen beispielsweise orthopädische Schuhe, Einlagen oder andere medizinische Spezialversorgungen. Normale Straßenschuhe – selbst wenn sie aus Krankheitsgründen schneller verschleißen – zählen dagegen zu Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens.

Damit entstand eine Lücke: Die Krankenkasse sieht sich nicht zuständig, weil es sich nicht um Hilfsmittel im sozialrechtlichen Sinne handelt. Das Jobcenter wiederum hatte zunächst argumentiert, gerade die Krankenkasse müsse einspringen.

Erst das Sozialgericht Hamburg schob diesem Zuständigkeits-Pingpong einen Riegel vor und stellte klar, dass die besondere Situation der Klägerin im Rahmen des Bürgergeldes zu berücksichtigen ist.

Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II

Rechtlich stützt sich die Entscheidung auf § 21 Absatz 6 SGB II. Diese Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, zusätzlich zum Regelsatz einen sogenannten Mehrbedarf zu gewähren, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Vorausgesetzt wird ein Bedarf, der regelmäßig anfällt, sich deutlich vom Üblichen unterscheidet und nicht lediglich einmalig auftritt. Zudem muss dieser Bedarf unabweisbar sein. Das bedeutet: Die betroffene Person kann ihn weder vermeiden noch aus anderen Mitteln decken, ohne in existentielle Schwierigkeiten zu geraten.

Genau hier setzte das Gericht an. Der Regelsatz ist pauschaliert und soll typische Ausgaben des täglichen Lebens erfassen – darunter auch Bekleidung und Schuhe. Er ist so bemessen, dass er den durchschnittlichen Bedarf in der Bevölkerung widerspiegelt. Treten jedoch besondere Lebensumstände hinzu, die zu deutlich höheren Ausgaben führen, kann ein Mehrbedarf zugesprochen werden.

Im Fall der Hamburger Klägerin stellte das Gericht fest, dass ihr Bedarf an Straßenschuhen von den Durchschnittswerten erheblich abweicht. Ursache ist allein ihre neurologische Erkrankung. Ohne regelmäßig neue Schuhe könnte sie ihren Alltag nicht bewältigen, da stark abgenutzte Schuhe Stürze fördern und die Gehbehinderung weiter verschärfen.

Argumentation des Gerichts

Das Sozialgericht Hamburg sah den Bedarf der Klägerin als laufend, besonders und unabweisbar an. Die gesundheitlich bedingte, übermäßige Abnutzung der Schuhe führt nicht nur zufällig hin und wieder zu Mehrkosten, sondern fortlaufend.

Die Richterinnen und Richter betonten, dass dieser Mehrbedarf durch die pauschalen Regelbedarfe nicht erfasst wird. Die statistische Grundlage des Regelsatzes sieht für Schuhe nur einen deutlich geringeren Betrag vor, der bei der Klägerin nachweislich nicht ausreicht.

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Ausschlaggebend war auch, dass der Mehrbedarf sorgfältig belegt war. Neben ärztlichen Attesten lag ein amtsärztliches Gutachten vor, das den auffälligen innerseitigen Verschleiß der Schuhe nach kurzer Tragezeit bestätigte. Hinzu kamen Quittungen und Nachweise über die tatsächlichen Schuhkäufe, sodass sich der monatliche Mehrbedarf von 19,46 Euro rechnerisch nachvollziehen ließ.

Damit erfüllte die Klägerin genau das, was die Rechtsprechung verlangt: Sie konnte sowohl den Grund des Mehrbedarfs als auch seine Höhe nachvollziehbar darlegen.

Keine Zuständigkeit der Krankenkasse

Ein wichtiger Punkt des Urteils betrifft die Abgrenzung zwischen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und Leistungen der Grundsicherung.

Die Krankenkasse übernimmt nach den einschlägigen Vorschriften die Kosten für Hilfsmittel, die erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen oder eine Behandlung zu unterstützen. Orthopädische Maßschuhe, Einlagen oder Schienen fallen darunter.

Normale Straßenschuhe gehören jedoch zu den alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Sie werden grundsätzlich von allen Menschen benötigt, ob gesund oder krank. Deshalb zählen sie nicht zu den Hilfsmitteln, die die Krankenkasse finanzieren muss.

Das Gericht stellte klar: Wenn solche Gebrauchsgegenstände wegen einer Krankheit in deutlich kürzeren Abständen ersetzt werden müssen, entsteht ein besonderer Bedarf innerhalb des Systems der Grundsicherung. Die Verantwortung liegt dann beim Jobcenter und nicht bei der Krankenkasse.

Keine realistischen Einsparmöglichkeiten

Bei der Frage, ob ein Mehrbedarf anerkannt wird, spielt zudem eine Rolle, ob die Betroffenen theoretisch an anderer Stelle sparen könnten.

Das Gericht verneinte solche Möglichkeiten. Die Klägerin bezieht Bürgergeld und verfügt damit nur über sehr begrenzte finanzielle Spielräume. Schon ohne den erhöhten Schuhbedarf ist der Regelsatz kaum ausreichend, um alle laufenden Lebenshaltungskosten abzudecken.

Hinzu kommt, dass die Erkrankung der Frau weitere Ausgaben verursacht. Sie berichtete, dass sie aufgrund ihrer Gangstörung häufiger stürzt und dadurch öfter Kleidung beschädigt wird, die dann ersetzt werden muss. Außerdem entstehen zusätzliche Kosten für Arztbesuche, etwa für regelmäßige Kontrollen oder Therapien.

Unter diesen Umständen sah das Sozialgericht keine realistische Option, den besonderen Schuhbedarf durch Einsparungen an anderer Stelle zu kompensieren. Der Mehrbedarf sei daher unabweisbar – ein entscheidendes rechtliches Kriterium.

Übernahme der außergerichtlichen Kosten

Neben dem laufenden Mehrbedarf verpflichtete das Sozialgericht Hamburg das Jobcenter auch zur Übernahme der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Dies bedeutet, dass die Frau nicht auf Anwaltskosten oder anderen im Zusammenhang mit dem Verfahren entstandenen Auslagen sitzen bleibt. Auch dieser Aspekt ist für viele Leistungsberechtigte bedeutsam: Wer einen berechtigten Anspruch vor Gericht durchsetzt, soll finanziell nicht schlechter dastehen, nur weil er sich gegen eine ablehnende Verwaltungsentscheidung gewehrt hat.

Bedeutung des Urteils für andere Betroffene

Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg (Az. S 39 AS 100/21) hat über den Einzelfall hinaus Signalwirkung. Es zeigt, dass krankheitsbedingte Besonderheiten, die zu dauerhaft erhöhten Ausgaben führen, im Rahmen des Bürgergeldes berücksichtigt werden können – auch wenn es um Gegenstände des täglichen Lebens geht.

Wichtig ist jedoch der Hinweis: Es handelt sich um eine Entscheidung einer Sozialgerichtskammer als Eingangsinstanz. Sie ist nicht automatisch für alle Jobcenter in Deutschland verbindlich. Höchstrichterliche Rechtsprechung, etwa durch das Bundessozialgericht, entfaltet eine stärkere Bindungswirkung.

Trotzdem kann das Hamburger Urteil als Argumentationshilfe dienen. Bürgergeld-Beziehende, die aufgrund einer Krankheit dauerhaft höhere Ausgaben haben – etwa für Schuhe, Kleidung oder bestimmte Alltagsgegenstände – können sich darauf berufen, wenn sie selbst einen Mehrbedarf beantragen. Entscheidend ist stets, dass der Bedarf medizinisch begründet, laufend und nicht aus dem Regelsatz zu decken ist.

Praktische Hinweise für Leistungsbeziehende

Aus dem Verfahren lassen sich einige praktische Lehren ableiten. Wer einen krankheitsbedingten Mehrbedarf geltend machen möchte, sollte ihn gegenüber dem Jobcenter möglichst konkret schildern und belegen.

Dazu gehört, dass die Erkrankung und ihre Folgen ärztlich dokumentiert sind. Im Fall der Hamburger Klägerin waren sowohl Atteste der behandelnden Ärztinnen und Ärzte als auch ein amtsärztliches Gutachten ausschlaggebend. Ebenso wichtig ist eine nachvollziehbare Aufstellung der Mehrkosten, etwa durch Rechnungen und Quittungen über mehrere Monate hinweg.

Wird der Antrag abgelehnt, besteht die Möglichkeit des Widerspruchs. Bleibt auch dieser erfolglos, kann der Weg vor das Sozialgericht offenstehen. Das Urteil aus Hamburg macht deutlich, dass sich dieser Schritt lohnen kann, wenn der Mehrbedarf gut begründet und nachweisbar ist.