Sozialamt-Mitarbeiter haben im großen Stil Sozialhilfe abgezockt

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Im Amt für Soziale Dienste der Freien Hansestadt Bremen schrieben zwei Sachbearbeiterinnen jahrelang ein Drehbuch, das in keinem Krimi glaubwürdiger inszeniert sein könnte.

Zwischen Januar 2022 und August 2024 erfanden sie mehr als dreißig alleinerziehende Elternteile, konstruierten dazu Dutzende Kinder und ließen die IT-Fachanwendung OK.UVIS Monat für Monat Unterhaltsvorschuss auf eigene Konten überweisen. Im Durchschnitt verschwanden so 13 500 Euro pro Monat; am Ende fehlten 418 000 Euro in der Landeskasse.

Erst eine Routineprüfung im Sommer 2024 ließ das Kartenhaus einstürzen – woraufhin die Behördenleiter die Beschäftigten fristlos entließen und die Staatsanwaltschaft Bremen mit Ermittlungen beauftragten.

Die Spur des Geldes

Das Konstrukt war ebenso simpel wie wirkungsvoll. Die Täterinnen legten in der Fachsoftware realistisch wirkende Akten samt Geburtsdaten und Meldeanschriften an. Ihre eigenen – tatsächlich existierenden – IBANs tarnten sie als Treuhand- oder Sammelkonten der angeblichen Alleinerziehenden.

Weil das System Zahlungen automatisch generiert, wanderte der Unterhalts­vorschuss am ersten Werktag jedes Monats ohne weitere Prüfschritte auf private Konten.

Das übliche Vier-Augen-Prinzip griff nicht: Anders als bei anderen Leistungen schreibt die Unterhaltsvorschussstelle alle Änderungen unmittelbar in die Zahlungsdatei.

Ein Kontrollbericht, der Querschnittsauswertungen ermöglicht hätte, existierte nicht. Erst die interne Revision stieß auf Unregelmäßigkeiten, als mehrere Konten zwecks Jahresabschluss stichprobenartig mit Meldedaten abgeglichen wurden.

Ermittlungen bis ins Ausland

So eindeutig die Manipulation innerhalb der Bremer IT war, so komplex gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung. Die Staatsanwaltschaft hat Rechtshilfeersuchen nach Polen und in die Niederlande gestellt, weil ein Teil des Geldes unmittelbar nach Eingang in Bremer Banken weitergeleitet wurde.

Bislang trafen ausländische Institute nur fragmentarische Informationen zu den Kontobewegungen ein.

Laut Staatsanwältin Melanie Frerichs können Anklagen erst erhoben werden, wenn alle Zahlungswege rekonstruiert sind – realistisch sei das frühestens im vierten Quartal 2025. Jeder zusätzliche Monat verzögert nicht nur den Prozess, sondern erhöht die Gefahr, dass Gelder unwiederbringlich verschwinden.

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Politisches Donnerwetter

Der Betrugsfall fachte eine hitzige Debatte in der Bremischen Bürgerschaft an. Oppositionsparteien warfen der rot-grün-roten Koalition „organisiertes Wegschauen“ vor.

Sozialsenatorin Claudia Schilling versprach ein Reformpaket, das Technik, Kontrolle und Verwaltungskultur gleichermaßen adressieren soll.

Ab Juli 2025 wird die Fachanwendung schrittweise auf Zwei-Faktor-Authentifizierung umgestellt; ein Algorithmus soll täglich zufällige Akten auf Plausibilität prüfen und damit das menschliche Vier-Augen-Prinzip digital abbilden. Ergänzend werden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes verpflichtend in Anti-Korruptionstrainings geschult; ein anonymes Hinweisgeber-System soll Whistleblowern Schutz bieten.

Während die Regierungsfraktionen den Plan als „robuste Antwort“ feiern, bezweifeln Verbände der Alleinerziehenden, ob interne Nachbesserungen genügen. Sie fordern – nach Berliner und Hamburger Vorbild – eine externe Kontrollbehörde, die Sozialleistungen dauerhaft überwacht.

Systemrisiko Unterhaltsvorschuss

Der Unterhaltsvorschuss ist weit mehr als eine bürokratische Geldleistung. Rund 1,7 Millionen Kinder in Deutschland sind darauf angewiesen, dass der Staat einspringt, wenn ein Elternteil nicht zahlt. 2023 flossen bundesweit knapp 860 Millionen Euro in diese Ausfallleistung.

Greifen Kontrollmechanismen nicht, gerät nicht nur fiskalische Integrität in Gefahr – für viele Familien steht die monatliche Miete oder das Schulessen auf dem Spiel.

Bremens Panne wirft deshalb Grundsatzfragen für das gesamte System auf: Wie viel Automatisierung verträgt eine Sozialkasse? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Effizienz und Sicherheit? Und welche Rolle spielen externe Prüfinstanzen, wenn interne Strukturen versagen?

Kann die Sicherheitslücke überhaupt geschlossen werden?

Der angekündigte Technologieschub soll die offensichtliche Sicherheitslücke schließen: Ohne eine zweite Authentifizierungsstufe ist jede Benutzerkennung im Fachverfahren prinzipiell ein Einfallstor.

Ebenso zentral ist jedoch die geplante Datenanalyse, die Musterabweichungen in Echtzeit erkennt – ein Instrument, das in Steuerverwaltungen längst Standard ist.

Skeptiker verweisen darauf, dass Software immer nur so gut ist wie die Kultur, in der sie eingesetzt wird.

Ein Whistleblower-System könne zwar Hinweise sammeln, doch erst eine Verwaltung, die Kritik wertschätzt, ziehe Nutzen daraus. Ob Bremen diese Kulturveränderung schafft, entscheidet sich nicht in den Patch-Notes der IT, sondern im täglichen Miteinander von Führung und Basis.

Was jetzt auf dem Spiel steht

Das fehlende Geld ist nur der sichtbarste Schaden. Weit gravierender ist der Vertrauensverlust – nach innen wie nach außen. Beschäftigte, die regelkonform arbeiten, fragen sich, warum Warnsignale niemand wahrnahm.

Bürgerinnen und Bürger sehen ein System wanken, das eigentlich Schutz bieten soll. Die entscheidende Kennzahl der kommenden Jahre wird daher nicht mehr die Schadenssumme von 418 000 Euro sein, sondern der Betrag, den Bremen in belastbare Sicherungs­mechanismen investiert. Gelingt es, digitale Kontrolle, menschliche Verantwortung und externe Aufsicht zu verzahnen, könnte der Skandal zum Katalysator einer moderneren, resilienteren Sozialverwaltung werden. Scheitert die Reform, droht ein schleichender Vertrauens­verlust, dessen Preis weit höher ausfällt als jede veruntreute Summe.