Wer zunächst Pflegesachleistungen erhält, kann rückwirkend nicht per Überprüfungsantrag auf Pflegegeld umschwenken. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 12. Juni 2025 (Az. B 3 P 8/23 R) klargestellt.
Die Entscheidung betrifft eine in der Beratungspraxis häufige Konstellation: Angehörige organisieren Pflege zu Hause, merken später, dass Pflegegeld besser gepasst hätte – und versuchen, den alten Bescheid über die Hintertür des § 44 SGB X zu kippen. Das BSG macht dieser Strategie einen Strich durch die Rechnung.
Der Fall in Kürze
Ausgangspunkt war die Bewilligung von Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI. Die Versicherte wollte im Nachhinein Pflegegeld nach § 37 SGB XI – und zwar für die Vergangenheit. Im konkreten Sachverhalt kam noch eine europarechtliche Besonderheit hinzu: Die Leistungen wurden im Rahmen einer Sachleistungsaushilfe (Stichwort S1-Bescheinigung) organisiert.
Entscheidend ist jedoch die Grundlinie des BSG: Das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X ist kein Hebel für einen rückwirkenden Leistungswechsel von Sach- zu Geldleistung.
Was das BSG entschieden hat
Das Gericht trennt scharf zwischen Rechtswidrigkeitskontrolle und Wahlrecht:
- § 44 SGB X dient dazu, rechtswidrige Verwaltungsakte zu korrigieren. War die ursprüngliche Bewilligung rechtmäßig, bleibt sie bestehen. Ein bloßer Wunschwechsel – „Sachleistung passt nicht mehr, bitte rückwirkend Pflegegeld“ – trägt nicht.
- Das in der Pflegeversicherung grundsätzlich bestehende Wahlrecht zwischen Sachleistung (§ 36) und Pflegegeld (§ 37) hat Voraussetzungen und Grenzen. Es wirkt prospektiv, nicht rückwirkend. In grenzüberschreitenden Konstellationen – etwa Sachleistungsaushilfe nach EU-Recht – ist die Wahlfreiheit zusätzlich systembedingt eingeschränkt, weil die Zuständigkeit der beteiligten Träger beachtet werden muss.
Damit rückt das BSG den Fokus dorthin, wo er hingehört: auf den Zeitpunkt der Entscheidung. Wer Pflegegeld will, muss diesen Weg rechtzeitig und aktiv einschlagen – statt im Nachhinein die Spielart der Leistung zu wechseln.
Warum das Urteil wichtig ist
Die Entscheidung bringt Rechtssicherheit für Betroffene, Beratungsstellen und Pflegekassen. In der Praxis werden Überprüfungsanträge oft als „Plan B“ genutzt, wenn das ursprünglich gewählte Leistungssetting (etwa mit ambulantem Dienst) im Familienalltag nicht funktioniert.
Das BSG stellt klar: Plan B funktioniert nur nach vorn, nicht rückwirkend. Damit stärkt das Gericht die Systemlogik der Pflegeversicherung – und verhindert, dass Wahlrechte entgegen ihrer gesetzlichen Anlage als nachträgliches Optimierungsinstrument eingesetzt werden.
Zugleich nimmt das Urteil die grenzüberschreitenden Fälle in den Blick. Wer Leistungen im Rahmen einer S1-basierten Sachleistungsaushilfe bezieht, kann nicht automatisch auf deutsches Pflegegeld umschalten.
Für eine Geldleistungsaushilfe bräuchte es das Einvernehmen der beteiligten Träger – ein Punkt, der in der Beratung oft übersehen wird.
Was Betroffene jetzt beachten sollten
Wer Pflege vor allem durch Angehörige sicherstellt, profitiert häufig vom Pflegegeld – schon wegen der Flexibilität. Das muss jedoch von Beginn an sauber beantragt werden. Wer bereits Sachleistungen bezieht, kann selbstverständlich für die Zukunft umstellen.
Ein rückwirkender Wechsel über § 44 SGB X bleibt die Ausnahme, nämlich nur dann, wenn der ursprüngliche Bescheid rechtswidrig war. Das ist zu prüfen – aber es ersetzt nicht die vorausschauende Wahl der passenden Leistungsart.
Gerade bei EU-Konstellationen gilt: Zuständigkeiten und Leistungswege frühzeitig klären. Pflegestützpunkte, Sozialberatungen und spezialisierte Rechtsberatung sollten Betroffene darauf hinweisen, dass Wahlrechte nicht losgelöst vom Zuständigkeitsrecht funktionieren.
Sachleistung oder Pflegegeld? Der Überblick
Pflegesachleistung (§ 36 SGB XI) | Pflegegeld (§ 37 SGB XI) |
Pflege wird durch zugelassene Diensteerbracht; Abrechnung direkt mit der Kasse. | Geld geht an die pflegebedürftige Person, die Pflege wird typischerweise durch Angehörige organisiert. |
Qualitätssicherung über Anbieterstruktur; planbare Leistungsumfänge. | Flexibilität und Eigenverantwortung; verpflichtende Beratungseinsätzezur Qualitätssicherung. |
In EU-Sachleistungsaushilfe (S1) regelmäßig vorgegeben; Wahlrecht eingeschränkt. | Wahlrecht grundsätzlich möglich, aber prospektiv und abhängig von Zuständigkeiten; kein rückwirkender Wechsel per § 44 SGB X. |
Geeignet, wenn professionelle Unterstützungim Vordergrund steht. | Geeignet, wenn Familienpflege den Schwerpunkt bildet. |
Hinweis: Kombinationsleistungen nach § 38 SGB XI bleiben unberührt – wer im deutschen System ist, kann Sachleistung und Pflegegeld miteinander kombinieren. In EU-Fällen gelten jedoch besondere Spielregeln, die vorab zu prüfen sind.
Einordnung aus Sicht der Redaktion
Das Urteil ist kein „Anti-Pflegegeld“-Spruch, sondern ein Plädoyer für klare Spielregeln: Wahlrechte ja – aber rechtzeitig und im Rahmen der Zuständigkeiten. Für Betroffene bedeutet das: Strategie vor Antrag.
Wer die Pflege zu Hause stemmen will, sollte die Leistungsart bewusst wählen, notfalls zunächst vorläufig entscheiden und eng mit Beratung und Kasse abstimmen. Der Versuch, Monate später über das Überprüfungsverfahren mehr Geld oder passendere Leistungen zu erhalten, wird nach dieser Entscheidung selten durchdringen.