Neuer Rentenplan: Mit Anfang 60 in die Rente nach 45 Jahren

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Kaum ist das Rentenpaket im Bundestag beschlossen, schiebt sich bereits die nächste Grundsatzfrage in Sachen Rente nach vorn: Soll der Zeitpunkt des Renteneintritts künftig weniger vom Lebensalter abhängen und stärker von der Dauer der Beitragszahlung? Wer 45 Jahre Beiträge zusammenbekommt, solle unabhängig vom Alter abschlagsfrei in den Ruhestand gehen können.

Wer also sehr jung ins Berufsleben startet, könnte schon mit Anfang 60 die 45 Jahre vollmachen, während Menschen mit späterem Berufseinstieg – etwa nach einem langen Studium – deutlich länger arbeiten müssten.

Arbeitsministerin Bärbel Bas hat sich öffentlich für die Idee gezeigt, den Renteneintritt stärker an Beitragsjahre zu koppeln.

Parallel dazu soll noch vor Weihnachten eine Rentenkommission eingesetzt werden, die bis Mitte 2026 Vorschläge für eine größere Reform vorlegen soll. Damit bekommt ein zunächst wie ein Gedankenspiel klingendes Modell plötzlich die Chance, zum Prüfauftrag einer offiziellen Reformrunde zu werden.

Was heute gilt: 45 Jahre zählen bereits – aber nicht als Freifahrtschein ab 61

Das deutsche Rentenrecht kennt schon lange eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte, die an 45 Jahre anrechenbare Zeiten anknüpft. Umgangssprachlich heißt sie häufig „Rente mit 63“.

Genau diese Bezeichnung führt jedoch regelmäßig in die Irre, weil sie nur für ältere Jahrgänge so zutraf. Inzwischen ist die Altersgrenze für diese Rentenart je nach Geburtsjahr nach oben verschoben worden; sie steigt schrittweise, und für später Geborene liegt der abschlagsfreie Zugang nicht mehr bei 63, sondern höher.

Selbst wenn jemand die 45 Jahre sehr früh erreicht, kann diese Rentenart nicht einfach beliebig vorgezogen werden. Die Deutsche Rentenversicherung weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Altersrente nicht „vorzeitig“ bezogen werden kann – auch nicht mit Abschlägen.

Wer also mit 16 beginnt und rein rechnerisch mit 61 auf 45 Jahre kommt, erhält nach geltender Rechtslage nicht automatisch einen Rentenanspruch ab 61, sondern erst, wenn die für den Jahrgang maßgebliche Altersgrenze erreicht ist.

Was mit „abschlagsfrei“ wirklich gemeint ist – und was nicht

Der Begriff „abschlagsfrei“ ist ein weiterer Stolperstein in der Debatte. Abschlagsfrei bedeutet, dass keine prozentuale Kürzung wegen vorzeitigen Rentenbezugs vorgenommen wird.

Das heißt aber nicht, dass die Rente genauso hoch ausfällt wie bei einem späteren Renteneintritt. Wer früher aufhört zu arbeiten, zahlt in der Regel auch kürzer Beiträge ein und sammelt weniger Entgeltpunkte.

Die Folge ist eine niedrigere Monatsrente – selbst dann, wenn keine Abschläge abgezogen werden. In der aktuellen Diskussion wird dieses Detail häufig übersehen, obwohl es für die Lebensrealität vieler Betroffener wichtiger sein kann als die Frage, ob ein Kürzungsfaktor greift.

Gerade bei einem gedachten Rentenzugang ab 61 würde dieser Effekt deutlich werden. Zwischen 61 und 65 liegen mehrere Jahre möglicher Beitragszahlung, die in der Rentenformel schlicht fehlen würden. Ein System, das den frühen Ausstieg ermöglicht, müsste daher immer auch beantworten, wie Menschen mit niedrigeren Rentenansprüchen die Lücke bis zu einem stabilen Alterseinkommen schließen sollen – durch längeres Arbeiten trotz Anspruch, durch zusätzliche Vorsorge oder durch stärkere staatliche Ausgleichsmechanismen.

Die Idee hinter dem Vorstoß: Lebensarbeitszeit statt Geburtsdatum

Der Reiz des Modells liegt in seiner vermeintlichen Gerechtigkeit: Wer früh und lange einzahlt, soll früher aufhören dürfen. Unterstützer argumentieren, es sei lebensnäher, auf die tatsächliche Erwerbsbiografie zu schauen statt auf ein starres Alter.

In de Debatte wird das besonders gern mit dem Vergleich Handwerk versus akademische Berufe genannt. Wer mit 16 eine Ausbildung beginnt und „durcharbeitet“, kommt schneller auf lange Beitragszeiten als jemand, der erst nach Studium oder Promotion in den Arbeitsmarkt eintritt.

Arbeitsministerin Bas hat dies aufgegriffen und Sympathie für die Kopplung an Beitragsjahre geäußert. Gleichzeitig wird in der Berichterstattung deutlich, dass es nicht „das eine“ fertige Modell gibt, sondern mindestens zwei Denkrichtungen: Entweder wird eine Mindestzahl an Beitragsjahren als Eintrittskarte definiert, oder das Rentenalter wird an Faktoren wie Lebenserwartung und demografische Entwicklung angepasst.

Welche Variante sich überhaupt seriös berechnen lässt, ist Teil des Problems. In aktuellen Beiträgen wird darauf hingewiesen, dass belastbare Statistiken für einzelne Gruppen – etwa darüber, wie viele Akademiker wie lange tatsächlich einzahlen – nur begrenzt verfügbar sind. Ohne solide Daten aber bleibt jede Reform zunächst ein politischer Slogan mit unklaren Nebenwirkungen.

Wer profitiert – und wer gerät unter Druck

Ein Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren würde frühe Erwerbsstarts begünstigen. Das betrifft nicht nur klassische Ausbildungsbiografien, sondern auch Menschen, die sehr jung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kommen. Für sie könnte das Modell eine Aufwertung der Lebensleistung sein: viele Jahre Arbeit, viele Jahre Beiträge, früherer Ruhestand.

Auf der anderen Seite stehen Personen mit späterem Einstieg. Dazu zählen viele Akademikerinnen und Akademiker, aber nicht nur sie. Wer aufgrund von Krankheit, längeren Phasen der Arbeitslosigkeit, Familienarbeit oder Migration unterbrochene Erwerbsverläufe hat, kann an einer starren Beitragsjahresgrenze scheitern oder sie sehr spät erreichen.

Besonders heikel ist die Frage der Teilzeit, die in der Debatte ausdrücklich als Differenzierungsproblem genannt wird. Eine Biografie mit vielen Teilzeitjahren kann zwar auf dem Papier lange „Dauer“ ergeben, aber in der Rentenberechnung zu niedrigen Ansprüchen führen. Wird der frühe Rentenzugang dann attraktiv, steigt gleichzeitig das Risiko, dass Menschen mit ohnehin geringen Renten noch früher aus dem Erwerbsleben gehen und später auf zusätzliche Unterstützung angewiesen sind.

Hinzu kommt ein weiterer Konflikt, den die Debatte nur selten offen ausspricht: Ein reines Beitragsjahresmodell setzt indirekt Anreize, früher in den Arbeitsmarkt einzutreten.

Das kann gesellschaftspolitisch schief wirken, wenn Bildungswege verlängert werden sollen, Fachkräfte höher qualifiziert werden müssen und lebenslanges Lernen gefordert wird. Plötzlich stünde die Botschaft im Raum: Wer länger lernt, „bezahlt“ später mit späterem Ruhestand. Ob ein Rentensystem solche Signale senden sollte, ist eine normative Frage – keine rein finanzielle.

Arbeitgeber gegen „Neuauflage der Rente mit 63“, Sozialverbände mit eigenen Sorgen

Arbeitgeber warnen davor, dass ein früherer Rentenzugang den Arbeitsmarkt zusätzlich ausdünnt. Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, hat die Idee öffentlich als Etikettenwechsel kritisiert und sinngemäß als Wiederbelebung der „Rente mit 63“ bezeichnet.

Aus dieser Sicht ist nicht die frühere Altersrente das Problem einzelner, sondern die gesamtwirtschaftliche Konsequenz: weniger Erwerbstätige, weniger Beiträge, mehr Druck auf Finanzierung und Wachstum. Der Arbeitgeberblick ist dabei konsequent: Wenn die Gesellschaft länger lebt und Fachkräfte knapp sind, soll längeres Arbeiten belohnt werden – nicht der frühere Ausstieg.

Sozialverbände argumentieren häufig aus einer anderen Richtung. Für sie steht die Frage im Vordergrund, ob Menschen überhaupt gesund bis zum regulären Rentenalter arbeiten können und ob Reformen die gesetzliche Rente stärken oder indirekt abwerten. In der aktuellen Rentendiskussion warnen Vertreterinnen und Vertreter aus dem Sozialverband VdK beispielsweise vor Rentenkürzungen durch eine höhere Lebensarbeitszeit, weil viele Menschen real nicht bis zum Schluss durchhalten.

Der SoVD begrüßt zwar die Stabilisierung des Rentenniveaus im beschlossenen Rentenpaket, pocht aber zugleich auf langfristige Verlässlichkeit und eine robuste gesetzliche Absicherung. Ein Beitragsjahresmodell könnte aus sozialpolitischer Sicht dann problematisch werden, wenn es faktisch dazu führt, dass Menschen mit Brüchen in der Biografie länger arbeiten müssen, obwohl sie gesundheitlich oder familiär stark belastet sind.

Politische Dynamik: Zustimmung aus der Union, aber mit Bedingungen

Teile von CDU und CSU sind offen für mehr Flexibilität, betonen aber, dass Details entscheidend sind. Markus Söder hat sich etwa positiv zur Grundidee geäußert, zugleich aber vor einer Überdehnung der Beitragsbasis und einer Ausweitung auf weitere Gruppen gewarnt.

Der Charme für konservative Akteure liegt darin, dass das Modell die Erzählung „Leistung muss sich lohnen“ bedient. Gleichzeitig lauert ein Widerspruch: Wer Flexibilität verspricht, muss sehr viele Sonderfälle regeln, um neue Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Und je mehr Sonderfälle geregelt werden, desto weniger bleibt von der vermeintlich einfachen Lösung übrig.

Die Rentenkommission: Warum 2026 zum Entscheidungskorridor werden könnte

Die Rentenkommission soll tatsächlich zeitnah eingesetzt werden und bis Mitte 2026 Vorschläge erarbeiten. Nach dem Bundestagsbeschluss zum Rentenpaket wird dieser Fahrplan in mehreren Berichten bestätigt. Damit wird das Jahr 2026 zu einem politischen Entscheidungskorridor.

Die Kommission soll, so ist es angekündigt, nicht nur über das Renteneintrittsalter sprechen, sondern auch über die Frage, wer künftig einzahlen soll, welche Einkommensarten herangezogen werden könnten und wie man das System im europäischen Vergleich stabiler gestaltet.

Einordnung: Ein einfacher Satz, viele unbequeme Folgefragen

„Rente nach 45 Beitragsjahren“ klingt wie ein klarer Deal: lange einzahlen, früher raus. Genau diese Klarheit macht den Vorschlag politisch anschlussfähig – und gefährlich. Denn das Rentensystem ist nicht nur ein Vertrag zwischen Individuum und Staat, sondern ein Umlagesystem, das in jedem Monat davon lebt, dass genügend Erwerbstätige genügend Beiträge zahlen. Jede Regel, die den Zugang erleichtert, verändert daher auch die Lastenverteilung.

Ob die Idee am Ende eine Rentenreform wird, hängt davon ab, ob sie sich in ein Gesamtpaket einfügt, das Finanzierbarkeit und soziale Balance zugleich verbessert. Wer früher in Rente gehen darf, hat im Schnitt weniger Entgeltpunkte; wer später anfangen musste, wird bei einer harten Beitragsjahresgrenze länger arbeiten; wer Unterbrechungen hatte, könnte zusätzlich benachteiligt werden. Es ist deshalb gut möglich, dass die Rentenkommission am Ende eher hybride Lösungen empfiehlt, die Flexibilität ermöglichen, ohne das System in eine neue Schieflage zu drücken.

Quellen

Deutsche Rentenversicherung, Informationen zur Altersrente für langjährig und besonders langjährig Versicherte (u. a. Hinweis zur „Rente mit 63“ und zur Nicht-Vorziehbarkeit der 45-Jahre-Rente).