Krankengeld: Darf die Krankenkasse zur vorzeitigen Rente zwingen?

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Wer monatelang arbeitsunfรคhig ist, erlebt hรคufig dasselbe Szenario:โ€ฏIrgendwann taucht bei einem Gesprรคch mit der Sachbearbeitung die Frage auf, ob nicht ein Rentenantrag gestellt werden mรผsse.

Viele Betroffene fรผrchten, dadurch unfreiwillig in die Erwerbsminderungsโ€‘ oder sogar in eine vorgezogene Altersrente mit Abschlรคgen gedrรคngt zu werden.

Die Sorge ist nicht unbegrรผndet, denn obwohl ein direkter Zwang zum Rentenantrag rechtlich nicht vorgesehen ist, gibt es einen indirekten Weg รผber den Rehaโ€‘Antrag nach ยงโ€ฏ51 SGBโ€ฏV, der in der Praxis weitreichende Folgen hat.

Freiwilligkeit des Rentenantragsย โ€“ und ihre Grenzen

Solange die Regelaltersgrenze nicht erreicht ist, bleibt die Entscheidung fรผr einen Rentenantrag grundsรคtzlich dem Versicherten รผberlassen. Eine Krankenยญkasse darf hรถchstens auf diese Mรถglichkeit hinweisen; sie kann jedoch keinen Antrag erzwingen.

Sanktionen wie eine Einstellung des Krankengeldes wรคren in diesem Zusammenhang unzulรคssig.

Das Mittel: die Rehaโ€‘Aufforderung

Die tatsรคchliche Gestaltungsmacht der Krankenkassen liegt bei der Aufforderung, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Teilhabe zu stellen. ยงโ€ฏ51โ€ฏAbs.โ€ฏ1โ€ฏSGBโ€ฏV gestattet es, dafรผr eine Frist von zehn Wochen zu setzen. Reagiert die versicherte Person nicht, endet der Anspruch auf Krankengeld mit Fristablauf.

Von der Reha zur Rente:ย Die automatische Umdeutung

Ein Rehaโ€‘Antrag gilt kraft Gesetzes als Rentenantrag, wenn die Deutsche Rentenversicherung feststellt, dass durch Rehaโ€‘Leistungen keine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfรคhigkeit zu erwarten ist. MaรŸgeblich ist hier ยงโ€ฏ116โ€ฏAbs.โ€ฏ2โ€ฏNr.โ€ฏ2โ€ฏSGBโ€ฏVI, oft als โ€žRentenantragsfiktionโ€œ bezeichnet.
Dejure

Damit verรคndert sich das Verfahren schlagartig: Der Rehaโ€‘Antrag lรคsst sich nun nicht mehr ohne Zustimmung der Krankenkasse zurรผckziehen. Kommt es zur Ablehnung einer Reha mit gleichzeitiger Umdeutung, steckt der oder die Versicherte bereits mitten im Rentenverfahrenย โ€“ de facto also doch โ€žzum Rentenantrag gezwungenโ€œ.

Formale Hรผrden fรผr die Aufforderung

Damit eine Rehaโ€‘Aufforderung wirksam ist, mรผssen mehrere Voraussetzungen erfรผllt sein. Erstens bedarf es eines รคrztlichen Gutachtens, das eine erhebliche Gefรคhrdung oder Minderung der Erwerbsfรคhigkeit bescheinigt.

Zweitens muss die Krankenkasse vor Erlass des Bescheids pflichtgemรครŸ ihr Ermessen ausรผben und den Versicherten anhรถren (ยงโ€ฏ24 SGBโ€ฏX). Drittens muss die Aufforderung schriftlich, begrรผndet und mit Rechtsbehelfsbelehrung ergehen.

Die Sozialgerichte heben unzureichend begrรผndete Bescheide immer wieder auf. Zuletzt bestรคtigte das Landessozialgericht Badenโ€‘Wรผrttemberg am 24.โ€ฏJanuarโ€ฏ2024 (Az.โ€ฏLโ€ฏ5โ€ฏKRโ€ฏ1044/21) die hohen Anforderungen an Begrรผndung und Ermessensausรผbung.

Rechtsschutz:ย Widerspruch und Klage

Gegen die Rehaโ€‘Aufforderung lรคsst sich binnen eines Monats Widerspruch einlegen. Solange das Verfahren lรคuft, darf das Krankengeld nicht eingestellt werdenโ€ฏโ€“ auch dann nicht, wenn kein Rehaโ€‘Antrag gestellt wird. Unterliegt der Versicherte spรคter, kann die Kasse jedoch die zu Unrecht weitergezahlten Betrรคge zurรผckfordern.

Wer das Risiko vermeiden will, legt deshalb meist fristgerecht Widerspruch ein und stellt den Rehaโ€‘Antrag, um ein mรถgliches Rรผckforderungsproblem zu verhindern.

Kommt es zur Umdeutung in einen Rentenantrag, kann auch dagegen Widerspruch erhoben werden, meist mit dem Ziel, doch noch Rehaโ€‘Leistungen zu erhalten. Ein Anwalt oder Rentenberater ist nicht zwingend erforderlich, erhรถht aber die Erfolgsaussichten und kann den Prozess beschleunigen oder strategisch verzรถgern.

Spielrรคume zum Zeitgewinn

Die Zehnโ€‘Wochenโ€‘Frist des ยงโ€ฏ51โ€ฏSGBโ€ฏV bietet einen ersten Puffer. Wer diesen ausnutzt, gewinnt fast drei Monate ohne formellen RechtsverstoรŸ.

Davon abgesehen kann der Rehaโ€‘Antrag bei jeder โ€žzustรคndigen Stelleโ€œ abgegeben werden, etwa bei einer Arbeitsagentur; bis er den Rentenversicherungstrรคger erreicht, vergeht zusรคtzliche Zeit.

In einem laufenden Widerspruchsverfahren ist es zulรคssig, zunรคchst nur fristwahrend Widerspruch einzulegen und die Begrรผndung erst nach Akteneinsicht nachzureichen. Solche Verfahrensschritte schaffen oft Wochen oder Monate, in denen unverรคndert Krankengeld flieรŸt.

Risiken des Hinauszรถgerns

Alle Verzรถgerungstaktiken sollten gegen mรถgliche Nachteile abgewogen werden. Ein frรผher Rentenantrag kann erhebliche Abschlรคge verursachen oder den Anspruch auf eine Betriebsrente gefรคhrden.

Umgekehrt schรผtzt ein langer Krankengeldbezug nicht unbegrenzt: Je nach Versicherungsverlauf endet er spรคtestens nach 78 Wochen. AuรŸerdem kann die Krankenkasse nach gewonnenem Prozess das wรคhrend eines unberechtigten Widerspruchs weitergezahlte Krankengeld zurรผckverlangen.

Beratung zahlt sich aus

Die Materie ist komplex, die Folgen sind oft dauerhaft finanziell spรผrbar. Wer sich frรผh an Spezialistinnen und Spezialisten fรผr Sozialโ€‘ oder Rentenrecht wendet, vermeidet Fehler, die spรคter kaum revidierbar sind.

Eine Beratung ist sogar ratsam, bevor รผberhaupt eine Aufforderung vorliegt: Wird ein Rehaโ€‘Antrag aus freien Stรผcken gestellt, kann man darin ausdrรผcklich festlegen, dass keine Umdeutung in einen Rentenantrag gewรผnscht istโ€ฏโ€“ eine Erklรคrung, die auch nachtrรคgliche Beschrรคnkungen des Dispositionsrechts durch die Krankenkasse รผbersteht.

Fazit

Die Krankenkasse kann niemanden direkt zwingen, einen Rentenantrag zu stellen. รœber die Rehaโ€‘Aufforderung nach ยงโ€ฏ51โ€ฏSGBโ€ฏV hat sie aber ein wirkungsvolles Mittel, um einen Rentenprozess auszulรถsen, wenn sie Zweifel an der langfristigen Erwerbsfรคhigkeit hat.

Versicherte sollten die formellen Anforderungen genau prรผfen, ihre Rechte auf Widerspruch und Klage kennen und frรผhzeitig professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. So lรคsst sich nicht nur wertvolle Zeit gewinnen, sondern vor allem die fรผr die eigene Lebensplanung beste Lรถsung finden.