Der EU-Behindertenausweis soll ab 2028 für mehr Teilhabe sorgen – aber längst nicht alle, die heute einen deutschen Behindertenausweis besitzen, werden spürbar profitieren.
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EU-Behindertenausweis ab 2028: Chance oder nur neue Plastikkarte?
In Deutschland hängt alles am Grad der Behinderung (GdB) und – ab GdB 50 – am Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen. Der EU-Behindertenausweis wird genau auf diesen nationalen Daten aufsetzen.
Er soll den Behindertenstatus bei Reisen und Kurzaufenthalten in anderen EU-Staaten nachweisen und dort Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr, in Museen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen erleichtern.
Rente, Pflege, Bürgergeld, Grundsicherung oder steuerliche Nachteilsausgleiche bleiben davon unberührt, sie bleiben weiterhin nationales Recht.
Der EU-Ausweis ergänzt also den deutschen Behindertenausweis, ersetzt ihn aber nicht und schafft auch keine neuen Sozialleistungen.
Damit ist klar: Der EU-Ausweis verstärkt in der Praxis das, was das deutsche Sozialrecht vorgibt. Wer hier nur knapp anerkannt ist, befristete Bescheide hat oder mit seinem GdB kaum Vergünstigungen erreicht, erhält zwar möglicherweise eine EU-Karte, profitiert davon aber kaum – oder rutscht sogar bei jeder Neubewertung aus dem System.
GdB entscheidet über EU-Karte
Nur wer einen anerkannten GdB hat, kommt überhaupt in den Kreis derjenigen, die später einen EU-Behindertenausweis erhalten können.
Menschen mit Schwerbehindertenausweis, also GdB 50 oder höher, und klaren Merkzeichen sind im Vorteil. Sie sind in Deutschland gut abgesichert, nutzen bereits heute Nachteilsausgleiche im Steuerrecht, Arbeitsleben und ÖPNV und können diese Position voraussichtlich mit dem EU-Ausweis ins Ausland „mitnehmen“.
Ganz anders sieht es bei Betroffenen aus, die zwar einen deutschen Behindertenausweis haben, aber nur mit niedrigem GdB, unsicheren Einstufungen oder befristeten Bescheiden leben. Genau diese Gruppen riskieren, im Zusammenspiel von deutschem Status und EU-Regelung durch das Raster zu fallen.
Unsichtbare Behinderungen: Warum viele mit Ausweis trotzdem leer ausgehen
Besonders kritisch ist die Lage für Menschen mit unsichtbaren oder psychischen Behinderungen, die bereits einen deutschen Behindertenausweis besitzen, aber nur einen niedrigen oder unsicheren GdB. Dazu zählen zum Beispiel schwere Depressionen, Angststörungen, Traumafolgestörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS bei Erwachsenen, Long Covid, chronische Schmerzerkrankungen oder Autoimmunerkrankungen.
In der Theorie fallen sie unter die weite Behinderten-Definition der UN-Behindertenrechtskonvention, auf die sich auch die EU-Richtlinie stützt. In der Praxis werden diese Diagnosen in Deutschland aber oft mit niedrigen GdB-Werten bewertet oder nur befristet festgestellt. Wer etwa einen GdB von 30 oder 40 hat, ist zwar offiziell beeinträchtigt, hat aber schon national nur begrenzte Vorteile.
GdB zu niedrig: EU-Behindertenausweis ohne echte Vorteile
Überträgt man diese Konstellation auf den EU-Behindertenausweis, entsteht häufig eine symbolische Anerkennung ohne praktischen Mehrwert. Der deutsche Behindertenausweis öffnet formal die Tür zum EU-Ausweis, aber viele Vergünstigungen im Ausland knüpfen an schwere Mobilitäts-, Seh- oder Hörbeeinträchtigungen oder an bestimmte nationale Kategorien an.
Eine Person mit GdB 30 wegen chronischer Schmerzen hat dann zwei Karten – eine deutsche und eine europäische – erlebt aber weder im Inland noch im Ausland große Veränderungen. Für viele psychisch oder chronisch Erkrankte bleibt der EU-Behindertenausweis damit ein Titel ohne greifbare Wirkung.
Befristete GdB-Bescheide: Wenn der Status jederzeit kippen kann
Besonders heikel wird es für Menschen mit befristetem deutschen Behindertenausweis. Viele psychische Erkrankungen, Long Covid oder andere chronische Leiden werden zunächst nur zeitlich begrenzt anerkannt. Nach wenigen Jahren steht eine Überprüfung an, bei der der GdB abgesenkt oder ganz gestrichen werden kann.
Überträgt man dies auf den EU-Behindertenausweis, hängt die europäische Karte direkt an der nationalen Befristung. Läuft der deutsche Bescheid aus oder wird der GdB herabgestuft, kann der EU-Ausweis nicht verlängert werden oder verliert seine Gültigkeit. Wer regelmäßig in andere EU-Länder reist – etwa zu Klinikaufenthalten, Studium oder Arbeit – kann sich damit nicht auf langfristige Rechte verlassen.
Schwankende Erkrankungen und permanenter Unsicherheitsmodus
Gerade bei Erkrankungen mit schwankendem Verlauf, bei denen sich „gute“ und „schlechte“ Phasen abwechseln, passt diese starre Logik schlecht zur Lebensrealität.
Betroffene leben ständig mit der Gefahr, dass ihr Status im falschen Moment wegbricht – und damit sowohl der deutsche Behindertenausweis als auch die EU-Karte zur Disposition stehen. Der EU-Behindertenausweis verstärkt hier eher die Unsicherheit, statt Stabilität zu schaffen.
GdB 20–40: Wenn der Behindertenausweis kaum in EU-Rechte übersetzt wird
Eine weitere Gruppe, die mit deutschem Behindertenausweis beim EU-System leicht durchs Raster fällt, sind Menschen mit vergleichsweise niedrigem GdB. Viele erhalten GdB 20 oder 30 und damit zwar einen nationalen Ausweis, aber nur sehr begrenzte Nachteilsausgleiche.
Die wichtigsten Vorteile – etwa beim Kündigungsschutz oder Zusatzurlaub – beginnen erst mit dem Schwerbehindertenstatus ab GdB 50.
EU-Behindertenausweis ohne spürbare Verbesserung
Überträgt man diese Konstellation in die Praxis, ist das Ergebnis ernüchternd: Der EU-Behindertenausweis wird zwar formal ausgestellt, doch die Zahl der konkreten Ermäßigungen bleibt klein. Im Ausland hängen viele Rabatte an deutlichen Funktionsbeeinträchtigungen, an Pflegegraden oder speziellen Kategorien.
Wer nur einen leichten GdB ohne Merkzeichen hat, wird seinen EU-Ausweis oft vorzeigen können – aber immer wieder hören, dass keine oder nur minimale Vergünstigungen vorgesehen sind.
Nationaler Behindertenausweis vs. EU-Behindertenausweis
Der deutsche Behindertenausweis ist vor allem ein Schlüssel zu steuerlichen, arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Nachteilsausgleichen. Er entscheidet mit über Pauschbeträge, Kündigungsschutz, Zusatzurlaub, besondere Schutzrechte im Arbeitsverhältnis oder bestimmte Rentenvorteile.
Der EU-Behindertenausweis dagegen richtet sich primär auf Mobilität, Freizeit und Kultur. Er soll das Reisen erleichtern, Zugang zu Angeboten verbessern und Ermäßigungen im Alltag schaffen. Für Menschen, die ihren deutschen Ausweis heute vor allem für Steuer und Sozialrecht nutzen, bringt die EU-Karte deshalb kaum neue materielle Vorteile.
Viele werden zwar problemlos einen EU-Ausweis erhalten, aber feststellen, dass ihre wichtigsten Rechte weiterhin ausschließlich an den deutschen Behindertenausweis gekoppelt bleiben.
Drittstaatsangehörige mit deutschem Behindertenausweis: Gefahr einer neuen Lücke
In Deutschland leben zahlreiche Drittstaatsangehörige, die hier einen anerkannten GdB und einen deutschen Behindertenausweis besitzen, aber keinen EU-Pass haben. Sie arbeiten, studieren oder leben dauerhaft im Bundesgebiet und sind genauso auf Barrierefreiheit angewiesen wie deutsche Staatsangehörige.
Die EU-Richtlinie eröffnet zwar die Möglichkeit, auch bestimmte Drittstaatsangehörige einzubeziehen, lässt aber den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielraum. Wenn Deutschland hier eine restriktive Linie wählt, kann es passieren, dass diese Menschen zwar national einen Behindertenausweis besitzen, aber keinen EU-Behindertenausweis erhalten.
Dann entsteht eine neue Ungerechtigkeit: gleiche Behinderung, gleicher nationaler Status – aber keine oder nur eingeschränkte europäische Anerkennung.
Praktische Konsequenzen: Wer mit deutschem Ausweis jetzt handeln sollte
Für alle, die bereits einen deutschen Behindertenausweis besitzen, lohnt sich ein genauer Blick auf die eigene Situation. Wer nur einen niedrigen GdB, unsichtbare oder psychische Behinderungen oder befristete Bescheide hat, gehört zu den Risikogruppen, die beim EU-Behindertenausweis nur begrenzt mitziehen.
Es kann sinnvoll sein, vorhandene Bescheide zu prüfen, medizinische Unterlagen zu aktualisieren, Verschlimmerungsanträge zu stellen oder Widerspruch einzulegen, wenn der GdB aus Sicht der Betroffenen zu niedrig angesetzt wurde. Je stabiler und nachvollziehbarer der nationale Status ist, desto geringer ist das Risiko, später aus dem EU-System zu fallen.
Übersicht: Wer mit deutschem Behindertenausweis beim EU-Behindertenausweis durchs Raster fällt
| Deutscher Status / Ausweissituation | Typisches Risiko im EU-System |
| Schwerbehindertenausweis mit hohem GdB und klaren Merkzeichen (z. B. G, aG, H) | Geringes Risiko: Der EU-Behindertenausweis ergänzt den nationalen Status; Betroffene können im Ausland leichter Nachteilsausgleiche nutzen und haben insgesamt die größten Vorteile. |
| Behindertenausweis mit GdB 20–40, ohne Merkzeichen, häufig bei unsichtbaren oder psychischen Erkrankungen | Hohes Risiko: Formell Zugang zum EU-Ausweis, aber wenige nationale Nachteilsausgleiche und oft kaum Vergünstigungen im Ausland; die EU-Karte bleibt überwiegend symbolisch. |
| Befristeter deutscher Behindertenausweis (alle GdB-Stufen) mit regelmäßigen Überprüfungen | Mittleres bis hohes Risiko: Der EU-Behindertenausweis hängt an der nationalen Befristung; bei Absenkung oder Entzug des GdB bricht der europäische Status weg und erzeugt permanente Unsicherheit. |
| Deutscher Behindertenausweis bei Drittstaatsangehörigen mit Aufenthaltstitel in Deutschland | Je nach Umsetzung erhebliche Lücke möglich: Trotz deutschem Ausweis kann der Zugang zum EU-Behindertenausweis eingeschränkt oder ausgeschlossen sein. |
| Gut dokumentierter Schwerbehindertenausweis mit stabilem, unbefristetem GdB | Geringes Risiko: Nationale und europäische Systeme greifen ineinander; hier entsteht die größte Chance, dass der EU-Behindertenausweis im Alltag tatsächlich Vorteile bringt. |




