Am 2. Dezember 2025 will der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in drei Revisionsverfahren klären, ob die Regelleistungen im Arbeitslosengeld II im Jahr 2022 trotz der massiven Preissteigerungen noch so bemessen waren, dass das menschenwürdige Existenzminimum zuverlässig gesichert blieb.
In der Terminankündigung wird die Frage ausdrücklich so zugespitzt: Es gehe darum, ob die Höhe des Bürgergeld-Regelbedarfs im Jahr 2022 ausgereicht habe, um das Existenzminimum zu gewährleisten.
Dass es ausgerechnet um das Jahr 2022 geht, ist kein Zufall. In dieses Jahr fiel die Fortsetzung der pandemiebedingten Verwerfungen, zugleich begann nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine neue Phase stark steigender Preise – besonders bei Energie und Lebensmitteln.
Für Haushalte mit niedrigen Einkommen ist das keine abstrakte Statistik, sondern Alltag: Wer kaum Spielräume hat, spürt jede Verteuerung unmittelbar am Kühlschrank, beim Stromabschlag und in der Mobilität.
Worum es in den Verfahren tatsächlich geht
Die Klägerinnen und Kläger bestreiten in ihren Revisionen, dass der 2022 gesetzlich festgelegte Regelbedarf die realen Bedarfe noch abgedeckt habe. Sie stützen sich dabei auf Daten des Statistischen Bundesamtes, deren Auswertung in der Fachliteratur sowie teilweise auf eigene Berechnungen.
Außerdem greifen sie die Einmalzahlung von 200 Euro im Juli 2022 an: Sie sei weder rechtlich in die Betrachtung einzubeziehen noch faktisch geeignet gewesen, den durch Preissteigerungen entstandenen Mehrbedarf zu decken.
Damit steht nicht nur eine Zahl zur Debatte, sondern auch die Frage, wie schnell der Gesetzgeber auf plötzliche Preiswellen reagieren muss und wie Gerichte solche Reaktionen bewerten: Reicht es aus Sicht des Grundgesetzes, auf Entlastungspakete und Einmalzahlungen zu verweisen, oder muss der Regelbedarf selbst zeitnäher abbilden, was Dinge des täglichen Lebens kosten?
Wie der Regelbedarf entsteht – und warum 2022 zum Streitjahr wurde
Der Regelbedarf wird in Deutschland nach dem Statistikmodell ermittelt. Maßstab ist das statistisch erfasste Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Haushalten mit niedrigem Einkommen; Grundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die das Statistische Bundesamt regelmäßig erhebt.
Dieses Verfahren ist in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt; zugleich betont die amtliche Darstellung, dass die Ermittlung „aktuell“, „zeit- und realitätsgerecht“ sowie auf verlässlichen Zahlen und schlüssigen Rechenschritten beruhen müsse.
Zwischen den Neuermittlungen werden die Beträge fortgeschrieben. Bis einschließlich 2022 geschah das nach einem Mischindex, der Preisentwicklung und Nettolohnentwicklung kombiniert.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat für die Fortschreibung zum 1. Januar 2022 ausdrücklich beschrieben, dass dabei ein Vergleichszeitraum verwendet wird, der die spätere Preiswelle nur verzögert erfasst; die höhere Preisentwicklung ab Juli 2021 könne aus statistischen Gründen nicht berücksichtigt werden und solle erst in die Fortschreibung für 2023 einfließen.
Genau diese Zeitverzögerung ist der Zündstoff des Streits. Denn zum 1. Januar 2022 stieg der Regelbedarf für alleinstehende Erwachsene lediglich von 446 auf 449 Euro, also um drei Euro.
Die Paritätische Forschungsstelle hat bereits 2022 darauf hingewiesen, dass eine Fortschreibung von lediglich 0,76 Prozent angesichts spürbarer Inflation zu Kaufkraftverlusten führen könne und damit die Gefahr einer Unterdeckung des Existenzminimums entstehe.
Ab 2023 wurde das Fortschreibungsverfahren geändert und um einen zusätzlichen, zeitnäheren Preisschritt ergänzt, um kurzfristige Preisbewegungen stärker abzubilden. Die Datensammlung „Sozialpolitik aktuell“ beschreibt diesen Systemwechsel als zweistufiges Verfahren, das gerade auch dem Problem zeitverzögerter Abbildung begegnen soll.
Dass diese Reform politisch notwendig erschien, ist ein wichtiger Hintergrund, wenn das BSG nun rückblickend beurteilen muss, ob das „alte“ Verfahren im Inflationsjahr 2022 noch genügte.
Die Einmalzahlung von 200 Euro: Gesetzlich vorgesehen – aber umstritten in der Wirkung
Eine weitere Streitachse verläuft entlang der Einmalzahlung von 200 Euro für Juli 2022. Sie war gesetzlich in § 73 SGB II geregelt: Leistungsberechtigte mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld, deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet, erhielten zum Ausgleich pandemiebezogener Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in dieser Höhe.
Politisch wurde die Zahlung im Frühjahr 2022 aufgestockt. Das BMAS teilte damals mit, das Kabinett habe beschlossen, die ursprünglich für Juli vorgesehene Einmalzahlung von 100 auf 200 Euro zu erhöhen, um Belastungen durch Pandemie und steigende Energiepreise abzufedern.
Vor Gericht ist damit aber noch nicht entschieden, welche rechtliche Rolle eine solche Einmalzahlung in der verfassungsrechtlichen Gesamtbewertung spielt. Die Klägerseite argumentiert, die Zahlung sei nicht „einrechenbar“ oder jedenfalls nicht ausreichend; andere Stimmen halten sie für einen Beleg, dass der Gesetzgeber auf die Preisentwicklung reagiert habe.
Genau hier wird das BSG voraussichtlich sehr sorgfältig trennen müssen: zwischen der Frage, ob der Regelbedarf als laufende Leistung angemessen war, und der Frage, ob zusätzliche Maßnahmen einen kurzfristigen Kaufkraftverlust tatsächlich kompensiert haben.
Drei Verfahren, drei Zeitfenster – ein Grundproblem
Nach der BSG-Ankündigung geht es in drei Aktenzeichen zugleich: B 7 AS 20/24 R, B 7 AS 30/24 R und B 7 AS 6/25 R.
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Bescheid prüfenInhaltlich decken sie unterschiedliche Ausschnitte des Jahres 2022 ab.
Beim Verfahren B 7 AS 20/24 R wird die Verfassungskonformität der Regelbedarfsstufe 1 für die Monate September und Oktober 2022 zum Thema gemacht.
Das ist genau der Zeitraum, in dem viele Haushalte die Preissteigerungen besonders scharf spürten.
Beim Verfahren B 7 AS 6/25 R wird die Regelbedarfsstufe 2 für die Monate Dezember 2021 bis Mai 2022 angegriffen; aus der Verhandlungsankündigung ergibt sich, dass eine Unterdeckung behauptet wird.
Zum Verfahren B 7 AS 30/24 R wird aus der Vorabkommunikation deutlich, dass die Frage nach der Pflicht des Gesetzgebers zur zeitnahen Reaktion auf die hohe Inflation eine Rolle spielt, ausdrücklich im Zusammenhang mit der Einmalzahlung von 200 Euro im Juli 2022.
Bemerkenswert ist, dass in der BSG-Kommunikation selbst bereits auf erhebliche Preissteigerungen bei regelbedarfsrelevanten Gütern hingewiesen wird; in einem Verhandlungstext wird etwa eine zweistellige Zunahme solcher Preise bis in den Herbst 2022 hinein genannt.
Das zeigt, wie stark das Gericht hier nicht nur mit juristischen Kategorien, sondern auch mit statistischen Realitäten arbeiten muss.
Unterdeckung nach Berechnungen von dem Experten Rüdiger Böker
Zusätzliche Brisanz erhält das Verfahren durch fachliche Berechnungen, wie sie Rüdiger Böker in einer Notiz zu den BSG-Verhandlungen zusammengetragen hat. Er kommt für 2022 – ausgehend von öffentlich verfügbaren Index- und Gesetzgebungsdaten und eigenen Berechnungen – je nach Zeitraum auf eine Unterdeckung zwischen 17 und 66 Euro pro Monat; über das Jahr 2022 summiere sich das in seiner Rechnung auf 549 Euro.
Was „verfassungskonform“ hier bedeutet – und warum Gerichte so zurückhaltend sind
Bei der Frage nach dem Existenzminimum steht immer ein Spannungsverhältnis im Raum. Auf der einen Seite steht der verfassungsrechtliche Anspruch, dass das Existenzminimum gesichert sein muss.
Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen einen weiten Gestaltungsspielraum, solange Methode und Ergebnis nachvollziehbar, datenbasiert und realitätsgerecht bleiben.
Die amtliche BMAS-Broschüre verweist dazu ausdrücklich darauf, dass das Statistikmodell vom Bundesverfassungsgericht geprüft und als verfassungsgemäß beurteilt worden sei, und betont zugleich, dass bei Gefahr einer mehr als geringfügigen Kaufkraftminderung geprüft werden müsse, wie zu reagieren ist.
Für das BSG folgt daraus ein Prüfauftrag: Es genügt nicht, nur die formale Gesetzestreue festzustellen. Das Gericht muss bewerten, ob sich die Fortentwicklung des Regelbedarfs im Jahr 2022 noch im Rahmen dessen bewegte, was die Verfassung verlangt, wenn Preise plötzlich davonlaufen – und ob Einmalmaßnahmen diese Lücke rechtlich und praktisch schließen konnten.
Mögliche Folgen eines Urteils
Sollte das BSG die Regelleistungen 2022 für verfassungsgemäß halten, wäre das ein starkes Signal an die Sozialgerichtsbarkeit, zumal bereits in den Vorjahren einige Instanzen Entlastungsmaßnahmen wie das 9-Euro-Ticket oder die Einmalzahlung als Reaktion des Gesetzgebers gewürdigt hatten.
Sollte das Gericht hingegen zu dem Ergebnis kommen, dass die Regelbedarfe 2022 das Existenzminimum nicht ausreichend abgebildet haben, sind die Konsequenzen schwerer vorherzusehen.
In einem solchen Fall steht regelmäßig die Frage im Raum, ob eine Norm dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden muss, weil Fachgerichte Gesetze nicht selbst für nichtig erklären können.
Parallel würde sich die praktische Frage stellen, ob und für wen Nachzahlungen denkbar wären, wie sie verwaltet würden und ob die Entscheidung eher als Auftrag an den Gesetzgeber oder als individualrechtlicher Anspruch verstanden werden müsste.
Schon die Tatsache, dass die Revisionsverfahren verschiedene Regelbedarfsstufen und Zeiträume betreffen, deutet an, dass es am Ende nicht um eine pauschale Antwort geht, sondern um die juristische Vermessung eines Ausnahmejahres.
Der weitere Kontext: Auch Karlsruhe ist mit Einmalleistungen befasst
Zusätzlich läuft beim Bundesverfassungsgericht ein Verfahren, das die Verfassungskonformität von Einmalleistungen im SGB II betrifft, darunter die Einmalzahlung im Juli 2022. Aus einer Auskunft aus Karlsruhe wurde Anfang 2024 mitgeteilt, dass ein Entscheidungstermin damals nicht absehbar war.
Auch wenn dieses Verfahren nicht identisch mit den BSG-Revisionsverfahren ist, zeigt es, dass die rechtliche Aufarbeitung der pandemie- und inflationsbezogenen Sonderregeln noch nicht abgeschlossen ist.
Warum diese Entscheidung weit über das Jahr 2022 hinausweist
Der Streit über die Regelleistungen 2022 ist auch eine Debatte darüber, wie „krisenfest“ ein System sein muss, das Millionen Menschen vor dem Abrutschen unter das Existenzminimum schützen soll. Die Fortschreibung nach festen statistischen Zeitfenstern hat im Normalbetrieb den Vorteil von Berechenbarkeit und Methodenklarheit. In einem Jahr mit abrupten Preiswellen kann genau diese Konstruktion aber zu spät reagieren – und dann wird aus einem technischen Detail eine Frage sozialer Teilhabe.
Das BSG-Urteil wird deshalb nicht nur den konkreten Klägerinnen und Klägern Antworten geben. Es wird auch Maßstäbe dafür setzen, wie Gerichte die Grenze ziehen zwischen politischem Ermessensspielraum und verfassungsrechtlicher Pflicht, reale Lebenshaltungskosten abzubilden.




