Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer umfassenden Reform des Bürgergelds. Künftig soll die Leistung wieder „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ heißen, das eigentliche Geld im Gesetzestext als „Grundsicherungsgeld“ bezeichnet werden. Der Begriff „Bürgergeld“ würde damit vollständig aus dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) verschwinden.
Die Reform ist vor allem eine deutliche Verschärfung: Sie steht für einen Kurswechsel hin zu schärferen Sanktionen und deutlich mehr Druck für die Leistungsbeziehenden.
In diesem Zusammenhang rücken nun besonders jene in den Vordergrund, die sich mit einer eigenen Firma oder freiberuflich über Wasser halten – oft mit schwankenden oder zu niedrigen Einkommen: die Selbstständigen im Leistungsbezug.
Bisherige Lage: Selbstständig sein und dennoch Bürgergeld beziehen
Bislang gilt: Wer selbstständig ist und mit den laufenden Einnahmen seinen Lebensunterhalt nicht decken kann, kann Bürgergeld beantragen – ohne die Selbstständigkeit grundsätzlich aufgeben zu müssen. Für viele Kleingewerbetreibende, Solo-Selbstständige, Kreative oder Freiberufler war das ein wichtiger Puffer in wirtschaftlich schwierigen Phasen.
In der Praxis bedeutete das: Einkommen aus der Selbstständigkeit wurde angerechnet, die Differenz zum Anspruch auf Bürgergeld übernahm das Jobcenter. Die Betroffenen mussten zwar regelmäßig ihre Gewinne und Verluste offenlegen, etwa über die Anlage EKS.
Ein verbindlicher Zeitpunkt, an dem die Jobcenter die Tragfähigkeit des Geschäftsmodells genauer bewerten und gegebenenfalls einen Wechsel in abhängige Beschäftigung einfordern mussten, war jedoch nicht gesetzlich festgelegt. Das soll sich jetzt ändern – mit spürbaren Konsequenzen für Selbstständige im Leistungsbezug.
Die neue Ein-Jahres-Regel: Pflicht zur Prüfung und möglicher Druck zum Jobwechsel
Der Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Umstellung vom Bürgergeld auf Grundsicherungsgeld sieht eine konkrete Neuregelung für Selbstständige vor: Nach einem Jahr im Leistungsbezug soll verbindlich geprüft werden, ob die Aufgabe der selbstständigen Tätigkeit oder ein Wechsel in eine andere Tätigkeit – etwa in ein Angestelltenverhältnis – zumutbar ist. Grundlage ist dabei die Einschätzung, ob die bestehende Selbstständigkeit als tragfähig gilt oder nicht.
Sozialrechtlich wird diese Neuregelung im § 10 SGB II-E verortet, der die Zumutbarkeit von Arbeit regelt. Dort heißt es im Entwurf: Nach einem Jahr Leistungsbezug müssen Jobcenter bei Selbstständigen verbindlich klären, ob es ihnen zugemutet werden kann, ihre Selbstständigkeit aufzugeben oder in eine andere Form der Erwerbstätigkeit zu wechseln, falls sich das Unternehmen als dauerhaft nicht existenzsichernd erweist.
Damit wird aus einer bislang eher offenen, zeitlich wenig strukturierten Praxis eine verpflichtende Schwelle: Spätestens nach zwölf Monaten sind Jobcenter gehalten, die Situation systematisch auf den Prüfstand zu stellen.
Für Selbstständige bedeutet das: Die Fortführung eines defizitären oder dauerhaft nicht hinreichend ertragreichen Geschäfts wird künftig wesentlich stärker hinterfragt werden als bisher.
Was „tragfähig“ bedeutet – und warum dieser Begriff so brisant ist
Die Gesetzesbegründung versucht, den unbestimmten Rechtsbegriff der „Tragfähigkeit“ zu konkretisieren. Eine selbstständige Tätigkeit soll demnach als tragfähig gelten, wenn sie auf Gewinn ausgerichtet ist und voraussichtlich geeignet ist, die Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu beenden.
In dieser Definition stecken mehrere interpretierbedürftige Punkte:
Erstens bleibt offen, wie lang ein „angemessener Zeitraum“ konkret sein soll. Gerade in der Gründungsphase brauchen neue Geschäftsmodelle häufig mehrere Jahre, um stabile Gewinne zu erwirtschaften. Die Linie der Reform zielt jedoch darauf, langjährige Zuschüsse für verlust- oder niedrigprofitabel laufende Unternehmen zu begrenzen.
Zweitens hängt viel von Prognosen ab. Jobcenter sollen einschätzen, ob ein Unternehmen „voraussichtlich“ in absehbarer Zeit die Hilfebedürftigkeit beendet. Das setzt betriebswirtschaftliche Kompetenz, Branchenkenntnis und eine fundierte Analyse der Geschäftsunterlagen voraus – Ressourcen, die in der Alltagspraxis der Jobcenter nicht immer in ausreichender Tiefe vorhanden sind.
Drittens ist die Bewertung nicht nur eine Zahlensache. Selbstständige investieren oft Herzblut, Zeit, persönliche Ersparnisse und professionelle Identität in ihre Tätigkeit. Die Beurteilung, ob eine Aufgabe zumutbar ist, berührt deshalb nicht nur die finanzielle, sondern auch die berufliche und biografische Situation eines Menschen.
Kritik des Bundesrechnungshofs an Dauer-Selbstständigkeit im Bürgergeld
Die Reform ist nicht zufällig. Sie folgt unter anderem den Empfehlungen des Bundesrechnungshofs. Dieser hatte Ende 2024 bemängelt, dass Jobcenter den dauerhaften Bezug von Bürgergeld durch Selbstständige nicht konsequent genug beenden und die Grundsätze von „Fordern und Fördern“ unzureichend umsetzen.
Nach Angaben des Rechnungshofs beziehen rund 65.000 Selbstständige Bürgergeld. In einer Stichprobe über mehrere Jobcenter hinweg zeigte sich: Etwa 37 Prozent der untersuchten Fälle lebten seit mindestens fünf Jahren von Grundsicherung, ohne dass systematisch geprüft worden wäre, ob die Selbstständigkeit überhaupt noch eine realistische Perspektive bietet, den Leistungsbezug zu beenden.
Die Prüfer empfahlen daher, gesetzlich klarzustellen, wann und in welchen Abständen die Tragfähigkeit einer selbstständigen Tätigkeit zu prüfen ist, und die Dauer der Phase zu begrenzen, in der Jobcenter darauf verzichten, aktiv Vermittlungsbemühungen zu entfalten, obwohl das Einkommen aus der Selbstständigkeit dauerhaft nicht zum Leben reicht.
Die nun geplante Ein-Jahres-Regel setzt diese Empfehlungen um – mit der Folge, dass aus behördlichem Ermessen ein verpflichtender Prüfmechanismus wird.
Mehr Druck auf Selbstständige: Was sich konkret ändern könnte
Für Selbstständige im Leistungsbezug bedeutet die Reform eine Verschiebung der Logik. Bisher war es möglich, eine wirtschaftlich eher schwache, aber formal weiterlaufende Selbstständigkeit länger aufrechtzuerhalten, solange die gesetzlichen Mitwirkungspflichten erfüllt wurden.
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Bescheid prüfenKünftig droht nach einem Jahr eine deutlich härtere Bestandsaufnahme. Stellt das Jobcenter fest, dass die Tätigkeit weder aktuell noch absehbar in der Lage ist, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, kann es argumentieren, dass die Fortführung nicht mehr zumutbar ist.
Daraus können Verpflichtungen entstehen, sich verstärkt auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bewerben, eine andere, aussichtsreichere Form der Selbstständigkeit aufzubauen oder Qualifizierungsmaßnahmen wahrzunehmen.
Kommt es in diesem Zusammenhang zu Auflagen – etwa zur Aufnahme bestimmter Arbeit, zur Teilnahme an Maßnahmen oder zur Aufgabe des bisherigen Geschäftes – greifen gleichzeitig die verschärften Sanktionsmechanismen der Reform.
Bei Pflichtverletzungen sind Leistungskürzungen von einheitlich 30 Prozent des Regelbedarfs vorgesehen, bei wiederholtem Verstoß kann es bis zur vollständigen Einstellung der Leistungen gehen.
Die Botschaft ist unmissverständlich: Eine nicht tragfähige Selbstständigkeit soll nicht mehr über Jahre hinweg aus der Grundsicherung mitfinanziert werden.
Wer besonders betroffen ist: Solo-Selbstständige, Kleinstbetriebe, Kreative
Die Auswirkungen der neuen Regelung werden sich in der Praxis je nach Branche, Geschäftsmodell und familiärer Situation unterschiedlich stark bemerkbar machen.
Für Solo-Selbstständige im Dienstleistungsbereich – etwa Fotografen, Kreative, Coaches, Texterinnen, IT-Freiberufler oder kleine Online-Händler – sind Einnahmeschwankungen eher die Regel als die Ausnahme. Viele dieser Tätigkeiten können sich mittel- bis langfristig durchaus rechnen, erreichen aber gerade in wirtschaftlich schwächeren Phasen oder in der Aufbauphase nicht dauerhaft das Niveau, um ohne ergänzende Leistungen auszukommen.
Kleinstbetriebe in strukturschwachen Regionen, etwa kleine Ladengeschäfte oder Handwerksbetriebe, kämpfen zudem mit steigenden Kosten, knapper Nachfrage und teils engen Margen. Für sie kann Bürgergeld bisher eine Art Sicherheitsnetz sein, um Durststrecken zu überbrücken.
Die Ein-Jahres-Prüfung könnte in diesen Konstellationen dazu führen, dass Jobcenter eine Aufgabe des Unternehmens schneller für zumutbar halten – etwa mit dem Verweis auf offene Stellen im Niedriglohnsektor, die kurzfristig die Hilfebedürftigkeit reduzieren können, auch wenn sie langfristig wenig Perspektive bieten.
Besonders sensibel ist die Lage für Selbstständige mit Familie. Wenn die gesamte Bedarfsgemeinschaft über das Einkommen aus der Selbstständigkeit und ergänzende Grundsicherung abgesichert wird, wird die Tragfähigkeitsprüfung immer auch eine Bewertung sein, ob das Geschäftsmodell den Unterhalt für Kinder mit sichern kann. Hier können Jobcenter argumentieren, dass eine schnelle Aufnahme einer besser kalkulierbaren Beschäftigung im Interesse der Kinder liege – ein weiterer Hebel für Druck.
Kritiker: Effizienz, Missbrauchsvorwurf und Angst vor „Abstrafung“
Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt warnt vor der Gefahr, dass die Reform sinnvolle unternehmerische Versuche abwürgt. In einer Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher Umbrüche – von Digitalisierung über Strukturwandel bis zur Energie- und Klimapolitik – sei es fatal, Menschen zu schnell aus der Selbstständigkeit zu drängen, nur weil sich der wirtschaftliche Erfolg nicht innerhalb eines engen Zeitfensters einstellt.
Kritisiert wird zudem, dass “die Beurteilung von Tragfähigkeit und Zumutbarkeit stark von der konkreten Praxis im jeweiligen Jobcenter abhängt”, so Anhalt. Fehlende betriebswirtschaftliche Expertise, hoher Arbeitsdruck und politische Erwartungshaltung, die Ausgaben im Sozialetat zu begrenzen, könnten dazu führen, dass Sicherheitsdenken dominiert: Lieber früher zum Jobwechsel drängen, als noch länger in eine unklare Selbstständigkeit zu investieren.
Rechtliche Grauzonen: Berufsfreiheit und Zumutbarkeit
Die Debatte hat auch eine rechtliche Dimension. Die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit aus Artikel 12 des Grundgesetzes schützt grundsätzlich auch die Entscheidung, als Selbstständige oder Selbstständiger tätig zu sein.
Allerdings ist der Bezug von Grundsicherung keine Pflichtleistung ohne Gegenleistung, sondern an Mitwirkung und Zumutbarkeitsregeln geknüpft. Die öffentliche Hand kann daher unter bestimmten Voraussetzungen verlangen, dass Leistungsberechtigte die Form ihrer Erwerbstätigkeit anpassen, wenn diese dauerhaft nicht existenzsichernd ist.
Bereits im Zuge der Kritik des Bundesrechnungshofs hatte das Bundesarbeitsministerium darauf hingewiesen, eine starre zeitliche Begrenzung der Selbstständigkeit könne die Berufsfreiheit berühren.
Die nun geplante Regelung versucht dieses Spannungsfeld zu entschärfen, indem sie keine automatische Pflicht zur Aufgabe der Selbstständigkeit nach einem Jahr vorsieht, sondern eine verbindliche Prüfung mit Ermessensspielraum des Jobcenters.
Ob dieser Ausgleich in der Praxis trägt, wird stark davon abhängen, wie differenziert die Jobcenter prüfen und wie sorgfältig sie dabei dokumentieren, warum sie eine Selbstständigkeit als nicht mehr zumutbar einstufen. Rechtsstreitigkeiten vor den Sozialgerichten sind absehbar, insbesondere in Fällen, in denen Betroffene ihre Unternehmung als langfristig erfolgversprechend ansehen, während das Jobcenter anders urteilt.
Unsicherheit, Anpassungsdruck und die Frage nach fairen Regeln
Für viele Selbstständige im Bürgergeldbezug bedeutet die geplante Grundsicherung zunächst eines: mehr Unsicherheit. Spätestens nach einem Jahr Leistungsbezug müssen sie damit rechnen, dass ihre Tätigkeit unter die Lupe genommen wird – mit der realen Möglichkeit, dass die Behörde von ihnen einen Kurswechsel verlangt.
Für andere – etwa in kreativen oder strukturschwachen Branchen – besteht die Gefahr, dass sie zwischen ambitionierter, aber schleppend laufender Selbstständigkeit und niedrig entlohnter Beschäftigung zerrieben werden.




