Gesetzliche Formulierungen lassen sich oft weit auslegen, besonders, wenn sie schwammig formuliert sind. Im Sozialrecht kann das kritisch werden, da es hier oft um Menschen geht, die sich in existentiellen Notlagen befinden.
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Was bedeutet „Kenntnis erhalten“?
So reicht es, laut dem Sozialgesetzbuch XII für einen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe, wenn die zuständige Behörde Kenntnis von dem Bedarf erhält. Doch die Geister scheiden sich bisweilen, was „Kenntnis erhalten“ genau bedeutet. Ein solcher Fall beschäftigte das Landessozialgericht Baden-Württemberg.
Kenntnis auch bei unvollständigem Antrag
Das Gericht entschied gegen ein Sozialamt und zugunsten einer Leistungsberechtigten, dass Kenntnis auch bei einem unvollständigen Antrag bestehen kann, der noch nicht alle Anspruchsvoraussetzungen nachweist. (L 7 SO 2479/23)
Bedürftige lebt im Pflegeheim
In diesem Fall lebte eine Frau in einem Pflegeheim in Albstadt-Eibingen, konnte dessen Kosten aber nicht von ihrer Rente decken. Ihr gesetzlicher Betreuer beantragte deshalb beim zuständigen Sozialamt die Übernahme der ungedeckten Kosten.
Sozialamt hält Unterlagen für unzureichend
Die Behörde hielt jedoch die vorgelegten Unterlagen über die finanzielle Situation der Betroffenen für unzureichend. Das Sozialamt bat den Betreuer um ergänzende Papiere und wies darauf hin, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege erst gewährt werden können, wenn die Notlage bekannt sei. Der Betreuer reagierte nicht, und auch das Sozialamt ließ die Sache auf sich beruhen – trotz Nachfragen des Pflegeheims.
Erst neue Betreuerin setzt Leistungen durch
Leistungen erhielt die Seniorin erst, nachdem eine neue Betreuerin für sie zuständig war. Diese machte erneut Leistungen geltend, mit vollständigen Unterlagen, und diesmal gewährte das Sozialamt, allerdings nicht für die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Antrag.
Klage vor dem Sozialgericht
Die Betroffene legte über ihren Betreuer Klage vor dem Sozialgericht ein, und es ging in die Berufung vor dem Landessozialgericht. Dieses urteilte zugunsten der Pflegebedürftigen. Die Richter erklärten, das Sozialamt habe über den formlosen Antrag des Betreuers auf Sozialhilfe einen Vermerk notiert.
Der Zugang zur Sozialhilfe muss niederschwellig sein
Sie erläuterten: „Der Beklagte könne insoweit nicht mit der im Verfahren getätigten Behauptung überzeugen, er habe die Notlage noch nicht einmal erahnen können. Dies könne jedoch im Ergebnis sogar dahinstehen. Denn die Kenntnis vom Bedarfsfall solle einen niederschwelligen Zugang zur Sozialhilfe gewährleisten.“
Es sei zwar richtig, dass das Amt zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage gewesen sei, die Voraussetzungen für einen Anspruch zu prüfen. Erst später sei erwiesen worden, dass ein Bedarfsfall vorlag.
Leistungen sind ab Antragstellung zu zahlen
Trotzdem hätte der Anspruch auf Leistungen ab dem Zeitpunkt des Antrags durch den Betreuer entstanden und nicht erst nach Eingang der geforderten Unterlagen. Auch bei einem unvollständigen Antrag müsse Sozialhilfe bereits bei Antragstellung gewährt werden.
So heißt es im Urteil: „Werde ein formloser Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, der die Behörde ohne weitere Angaben des Antragstellers noch nicht in die Lage versetze, die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, seien – soweit die Voraussetzungen im Weiteren erwiesen würden – Leistungen dennoch ab Antragstellung zu zahlen.“
Den Richtern zufolge widerspreche es dem Prinzip der Sozialhilfe, diese trotz gleicher Ausgangslage erst später auszuzahlen.