Hartz IV Gnadenlos: Der Kahlpfändungs-Skandal

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Hartz-IV Gnadenlos: Möbelspedition droht mit Beleidigungsklage gegen “Offenen Brief” im Internet
von Joachim Weiss

»Es gibt kein Wort in der Sprache, »das nicht irgendwo das beste wäre und an seiner rechten Stelle. Denn »an sich sind alle Wörter rein und unschuldig, sie gewinnen erst dadurch Zweideutigkeit, dass sie der Sprachgebrauch halb von der Seite ansieht und verdreht,« befanden einst die Gebrüder Grimm. In diesem Sinne kann man auch die Reaktion einer Möbelspedition erklären, die im Auftrag des Gerichtsvollziehers Zwangsräumungen durchführt und die Möbel der Betroffenen für satte Gebühren einlagert. Ein praktischer Service für Vollstreckungsbehörden, die sich nicht darum scheren, ob und wie die Betroffenen jemals wieder in den Besitz ihres Eigentums gelangen.

Ebenso ist es dem durch Hartz-IV bemittelten Verfasser ergangen: Für die Herausgabe seines Anfang 2008 in drei Containern eingelagerten Hausrates und Arbeitsinventars soll er heute rund 10.000 Euro Lagerkosten bezahlen. Bereits im April hat das Amtsgericht Lörrach in einer skandalösen erstinstanzlichen Entscheidung festgestellt, dass die Spedition sein Eigentum nach eigenem Gutdünken verwerten darf, und sich dabei noch nicht einmal an die Vorschriften des gesetzlichen Pfändungsschutzes halten muss (siehe Artikel "Grünes Licht für Kahlpfändung"). Grund: In der nunmehr für September 2009 angekündigten Zwangsverwertung durch die Spedition erkennt das Gericht keine Vollstreckungsmaßahme, sondern die Ausübung eines Pfandrechtes aus dem Handelsgesetz, welches freilich für den Geschäftsverkehr unter Vollkaufleuten und nicht für Hartz IV Bezieher in einer akuten sozialen Notlage konzipiert wurde. Hier bedarf es dringend einer gesetzlichen Anpassung!

Abgesehen davon gibt es für das gesetzliche Verbot der Kahlpfändung auch einen gutem Grund: Sämtliche Kosten für Wiederbeschaffungen und berufliche Reintegration würden dabei auf den Steuerzahler abgewälzt, während sich der Gläubiger (z.B. durch Ausfallversicherungen und steuerliche Abschreibungen) schadlos hält. Für ältere Selbstständige, Freiberufler und Künstler, ist die Gefahr, auf diese Weise zum Sozialhilfeempfänger auf Lebenszeit zu werden, besonders groß.

Hartz-IV-Vogelfrei?
Schon im Mittelalter war es üblich, Personen, die sich den Bereicherungsabsichten der Obrigkeit widersetzt haben, wie gewöhnliche Verbrecher für »vogelfrei« zu erklären. Noch schlimmer trieben es die Nazis: Um in den Besitz von Möbeln und sonstigen Einrichtungsgegenständen aus „unbewachten jüdischen Wohnungen“ von geflohenen oder deportierten Juden zu gelangen, erfand das Reichsministerium für die besetzen Ostgebiete 1942 die so genannte »M-Aktion« („M“ für Möbel!), bei der »Wohnungseinrichtungen in Sammellager geschafft, anfangs den Verwaltungen in den besetzten Ostgebieten zur Verfügung gestellt, später jedoch bevorzugt den „Bombengeschädigten“ im Deutschen Reich zum Kauf angeboten wurden[1]

Das Unrecht solcher Maßnahmen ist so offenkundig wie verabscheuungswürdig; man kann sich nicht genug darüber empören. Doch wie müssen sich dann erst die Betroffenen gefühlt haben – nicht nur ihres Eigentums, sondern auch jeder Aussicht auf Rechtsschutz beraubt? Und wer empört sich über die Millionen »rechtschaffenen Bürger«, die dieses verbrecherische Treiben dumm und stumm toleriert haben?

Mauer des Schweigens
Um solche Mauern des Schweigens zu durchbrechen, hat der Verfasser an die Inhaber des Speditionsunternehmens einen »Offenen Brief« geschrieben; er hat darin an die »M-Aktion« erinnert, und seinem eigenen Befinden –nicht nur als Opfer einer völlig verfehlten Sozialpolitik, sondern auch im Sinne eines stumm hinzunehmenden Zustandes der Ent-Rechtung – zum »Hartz-IV-Outlaw« Ausdruck verliehen, und diesen als Beitrag in seinem Internet-Blog www.gegen-stimmen.de publiziert. Weiter heißt es darin:

»Dass sich die politischen Verhältnisse in der Zwischenzeit so radikal verändert haben, dass sich Gegenüberstellungen oder Vergleiche der vorstehenden Art grundlegend verbieten, kann ich nach allen Sonderbehandlungen, die mir mit staatlicher Billigung in der Zwischenzeit widerfahren sind, nicht mehr nachvollziehen.«

Standesprivilegien für Spediteure?
Als Antwort auf seine Aufforderung, das Speditionsunternehmen möge a) auf die Ausübung des Pfandrechtes verzichten, b) die eingelagerten Sachen ‑ unter welchen sich keine außergewöhnlichen Wertsachen, wohl aber unverzichtbare berufliche Arbeitsmittel befinden ‑ frei geben und sich c) mit den Rechten eines »gewöhnlichen« Gläubigers zufrieden zu geben (Vollstreckungstitel, Möglichkeit zur Schuldnerinsolvenz), erhielt der Verfasser prompt eine Abmahnung. Er müsse den offenen Brief unverzüglich aus dem Internet entfernen und eine beigefügte Unterlassungserklärung« unterzeichnen; ferner wurde ihm eine Strafanzeige wegen Beleidigung in Aussicht gestellt.

»In den von Ihnen ‑mit Verlaub gesagt sehr oberflächlichen und unter Auslassung maßgeblicher Passagen und Hintergrundinformationen – vorgenommenen Bewertungen des Beitrages finde ich keine haltbare Begründung für eine so weit reichende Einschränkung des Rechtes zur freien Meinungsäußerung bzw. zur informationellen Selbstbestimmung der Leserschaft,« konterte darauf der Verfasser. Offenbar ist es den Opfern des Systems Hartz-IV untersagt, keineswegs an den Haaren herbeigezogene Vergleiche mit Opfern der »M-Aktion« im Dritten Reich zu ziehen.

Wieso eigentlich nicht?
Um eine unbeabsichtigte Weiterverbreitung und Missinterpretation durch Dritte zu vermeiden, hat der Verfasser den beanstandenden Beitrag schließlich doch entfernt. Er will den Ruf des Unternehmens nicht beschädigen – und vielleicht wird er davon ja besser. »Es gibt Fälle«, zitiert der Journalist Henryk M. Broder einmal den britischen Schauspieler Mr. Bean, »da kann das Recht zu beleidigen, sehr viel wichtiger sein, als das Recht, nicht beleidigt zu werden.« (20.07.2009)