EM-Rente oder vorgezogene Altersrente: Diese Rente ist oft die bessere

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Viele Versicherte stehen nach einer lรคngeren Erkrankung oder nach der Aussteuerung des Krankengeldes vor einer Grundsatzentscheidung: Soll ein Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung gestellt werden oder ist der Weg in eine vorgezogene Altersrente sinnvoller?

Seit der Reform 2019 hat sich das Gefรผge spรผrbar verschoben. Die Erwerbsminderungsrente wurde gestรคrkt und ist fรผr zahlreiche Betroffene vorteilhafter als eine Altersrente mit Abschlรคgen. Dennoch bleibt diese Option hรคufig ungenutzt โ€“ nicht zuletzt, weil die Hรผrden im Verfahren hoch sind und Fehleinschรคtzungen im Vorfeld die Chancen schmรคlern.

Zwei Rentenarten, zwei Logiken

Die Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) ist keine Altersrente, sondern eine Leistung bei dauerhaft geminderter Erwerbsfรคhigkeit. Sie schรผtzt โ€“ altersunabhรคngig โ€“ dann, wenn gesundheitliche Einschrรคnkungen die Teilhabe am Erwerbsleben nachhaltig begrenzen.

Die vorgezogene Altersrente folgt einer anderen Logik: Sie setzt ein Mindestalter und bestimmte Versicherungszeiten voraus und ist regelmรครŸig mit lebenslangen Abschlรคgen verbunden.

Wรคhrend also Altersrenten an das Erreichen bestimmter Lebensalter gekoppelt sind, knรผpft die EM-Rente primรคr an den medizinisch begrรผndeten Verlust an Erwerbsfรคhigkeit an. Das macht ihren Zugang anspruchsvoller, zugleich aber ihren Schutz passgenauer, wenn die Gesundheit der limitierende Faktor ist.

Zugangsvoraussetzungen: Was fรผr die EM-Rente zรคhlt

Rechtlich verlangt ยง 43 SGB VI eine allgemeine Wartezeit von fรผnf Jahren, auรŸerdem in den letzten fรผnf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre mit Pflichtbeitrรคgen.

Entscheidend ist darรผber hinaus der medizinische Tatbestand: Volle Erwerbsminderung liegt vor, wenn das tรคgliche Leistungsvermรถgen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden abgesunken ist; teilweise Erwerbsminderung wird angenommen, wenn noch drei bis unter sechs Stunden arbeitsfรคhig sind.

Diese Feststellungen beruhen auf fachรคrztlichen Befunden und gutachterlichen Einschรคtzungen โ€“ eine sorgfรคltige medizinische Dokumentation ist daher wichtig.

Die Reform seit 2019: Lรคngere Zurechnungszeiten, geringere Abschlรคge

Mit der Reform wurde die sogenannte Zurechnungszeit deutlich verlรคngert. Sie wirkt so, als hรคtten Versicherte bis zur Regelaltersgrenze weiter Beitrรคge gezahlt: Je nach Rentenbeginn wird die EM-Rente rechnerisch bis zum 67. Lebensjahr โ€žaufgefรผlltโ€œ (ยง 253a SGB VI).

Das erhรถht die Entgeltpunkte und damit den monatlichen Zahlbetrag. Gleichzeitig wurde der Abschlag bei der EM-Rente gedeckelt: Er betrรคgt maximal 10,8 Prozent. Bei der vorgezogenen Altersrente kรถnnen โ€“ insbesondere ab Geburtsjahrgang 1964 โ€“ bis zu 14,4 Prozent dauerhaft anfallen. Dieser Unterschied wirkt รผber die gesamte Rentenbezugsdauer und ist in vielen Fรคllen finanziellem Ausschlaggeber zugunsten der EM-Rente.

Tabelle: Vor und Nachteile der vorgezogenen Rente und der EM-Rente

Erwerbsminderungsrente (EM-Rente)
Vorteile Nachteile
Lรคngere Zurechnungszeit bis zur Regelaltersgrenze erhรถht Entgeltpunkte und Zahlbetrag. Strenge medizinische Voraussetzungen; Erwerbsminderung muss fachรคrztlich nachgewiesen werden.
Maximaler Abschlag von 10,8 % โ€“ hรคufig geringer als bei vorgezogenen Altersrenten. Verfahren oft langwierig und fรผr Betroffene belastend; ungewisser Ausgang.
Frรผher Rentenbeginn unabhรคngig vom Alter, sobald Erwerbsminderung eintritt. Hรคufige Ablehnungen bei fehlender, lรผckenhafter oder widersprรผchlicher Dokumentation.
Nahtlosigkeitsregelung (ยง 145 SGB III) kann wรคhrend der Prรผfung finanziell รผberbrรผcken. Erfรผllung der Wartezeit (5 Jahre) und der 3/5-Pflichtbeitragsregel erforderlich.
Automatische Umwandlung in die Regelaltersrente ohne neuen Antrag. Gutachten kรถnnen voneinander abweichen; Leistungsvermรถgen wird teils unterschiedlich eingeschรคtzt.
Leistung orientiert sich an der tatsรคchlichen Leistungsfรคhigkeit und schรผtzt bei gesundheitlicher Einschrรคnkung. Hรถhere Zugangshรผrden als bei Altersrenten insgesamt.
Vorgezogene Altersrente
Vorteile Nachteile
Planbarer Zugang bei erfรผllten Alters- und Versicherungszeiten; klar geregeltes Verfahren. Lebenslange Abschlรคge bis zu 14,4 % (insbesondere ab Geburtsjahrgang 1964).
Kein medizinischer Nachweis der Erwerbsminderung nรถtig. Frรผhester Beginn erst ab festem Mindestalter (z. B. 61 Jahre 10 Monate fรผr schwerbehinderte Menschen, Stand Oktober 2025).
Verfahren in der Praxis hรคufig einfacher und schneller als EM-Prรผfungen. Keine Aufwertung durch Zurechnungszeit; langfristig oft geringerer Zahlbetrag als EM-Rente.
Hohe Bewilligungszahlen; Anspruch bei erfรผllten Voraussetzungen relativ sicher. Bildet gesundheitliche Einschrรคnkungen nicht ab; kann bei Erwerbsminderung finanziell nachteilig sein.
Mรถglichkeit, ohne EM-Verfahren frรผher aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Abschlรคge wirken dauerhaft รผber die gesamte Rentenbezugsdauer.

Zeitpunkt und รœbergรคnge: Frรผherer Start, automatische Umwandlung

Ein weiterer Vorteil liegt im frรผhestmรถglichen Beginn: Die EM-Rente kann unmittelbar mit Eintritt der Erwerbsminderung einsetzen โ€“ unabhรคngig vom Lebensalter. Eine vorgezogene Altersrente ist demgegenรผber frรผhestens ab einem bestimmten Mindestalter mรถglich; fรผr schwerbehinderte Menschen liegt dieser frรผheste Zugang derzeit bei 61 Jahren und 10 Kalendermonaten (Stand: Oktober 2025). Erreicht die oder der Versicherte spรคter die Regelaltersgrenze, wird die EM-Rente automatisch in eine Altersrente umgewandelt, ohne dass ein neuer Antrag gestellt werden muss. Der Schutz bleibt also durchgรคngig erhalten.

Absicherung der รœbergangsphase: Die Nahtlosigkeit als Brรผcke

Wรคhrend das EM-Verfahren lรคuft, lรคsst sich die finanzielle Lรผcke hรคufig durch die Nahtlosigkeitsregelung schlieรŸen. Nach ยง 145 SGB III kann die Agentur fรผr Arbeit Arbeitslosengeld zahlen, wenn wegen gesundheitlicher Einschrรคnkungen eine Erwerbstรคtigkeit nicht mรถglich ist und รผber den EM-Antrag noch nicht entschieden wurde.

Das mindert das Risiko, in der Wartezeit in existenzielle Not zu geraten, und verschafft den notwendigen Spielraum, die medizinischen Nachweise in Ruhe zusammenzutragen.

Bewilligungspraxis: Harte Hรผrden, rรผcklรคufige Quoten

In der Praxis zeigt sich eine klare Tendenz: Die Bewilligungen nach Antrag sind in den vergangenen Jahren nicht gestiegen, teils sogar rรผcklรคufig. Jรคhrlich werden rund 160.000 bis 170.000 Erwerbsminderungsrenten neu bewilligt, wรคhrend die Zahl der Altersrenten deutlich hรถher liegt und zuletzt bei รผber 900.000 Bewilligungen pro Jahr (2024) verzeichnet wurde.

Der โ€žKampfโ€œ um EM-Leistungen ist hรคrter geworden โ€“ auch, weil die Leistung seit 2019 finanziell attraktiver ist als viele Altersrentenvarianten. Wer die EM-Rente beantragt, muss deshalb mit grรผndlicher Prรผfung, mit medizinischen Gutachten und nicht selten mit Widerspruchs- und Klageverfahren rechnen.

Typische Stolpersteine: Warum Antrรคge scheitern

Hรคufige Ablehnungsgrรผnde liegen weniger in einzelnen Formalien als in der Gesamtschau: Fehlen aussagekrรคftige fachรคrztliche Befunde, sind Reha-Berichte widersprรผchlich oder wird die Krankheitsentwicklung nicht konsistent dokumentiert, lรคsst sich die dauerhafte Erwerbsminderung schwer belegen. Hinzu kommen versicherungsrechtliche Lรผcken, etwa wenn in Schlรผsseljahren zu wenige Pflichtbeitrรคge vorhanden sind, weil ausschlieรŸlich Minijobs ohne Rentenversicherungspflicht ausgeรผbt wurden.

Auch divergierende Einschรคtzungen zum tatsรคchlichen Leistungsvermรถgen โ€“ insbesondere bei komplexen Krankheitsbildern โ€“ fรผhren hรคufig zu negativen Entscheidungen. Diese Hรผrden sind รผberwindbar, aber sie verlangen systematisches Vorgehen.

Strategisches Vorgehen: Sorgfalt schlรคgt Geschwindigkeit

Wer gesundheitlich stark eingeschrรคnkt ist, sollte die EM-Rente stets vor einer vorzeitigen Altersrente prรผfen. Der erste Schritt ist eine lรผckenlose medizinische Aktenlage: Haus- und Facharztbefunde, Reha-Entlassungsberichte, Therapieverlรคufe und, wo vorhanden, Ergebnisse arbeitsmedizinischer Einschรคtzungen gehรถren in eine konsistente Chronologie. Parallel empfiehlt sich ein genauer Blick in die Renteninformation oder eine aktuelle Rentenauskunft, um Versicherungszeiten und die Erfรผllung der 3-in-5-Regel zu verifizieren.

Der Antrag sollte idealerweise gestellt werden, bevor das Krankengeld auslรคuft; so lassen sich Gaps in der Sicherung vermeiden und die Nahtlosigkeitsregelung frรผhzeitig nutzen.

Wird der Antrag abgelehnt, ist fachlicher Beistand sinnvoll: Widersprรผche haben hรคufig Erfolg, wenn medizinische Unterlagen nachgereicht, Unklarheiten ausgerรคumt oder methodische Mรคngel der Erstbegutachtung aufgezeigt werden. Gerade bei umstrittenen Diagnosen oder fluktuierenden Leistungsbildern erhรถhen gut begrรผndete Gegengutachten die Chance erheblich.

Abwรคgung: Mehr als nur der aktuelle Zahlbetrag

Die Entscheidung โ€žEM-Rente versus vorgezogene Altersrenteโ€œ sollte nicht auf den ersten Blick des Zahlbetrags beruhen. MaรŸgeblich sind die langfristigen Wirkungen: Die verlรคngerte Zurechnungszeit steigert die Entgeltpunkte, der niedrigere maximale Abschlag bewahrt einen grรถรŸeren Anteil des erdienten Anspruchs, und der frรผhere Beginn schรผtzt die Liquiditรคt in einer gesundheitlich kritischen Phase.

Selbst dort, wo eine Altersrente ohne Abschlรคge erreichbar scheint, kann die EM-Rente im Lebensverlauf die stabilere Option sein โ€“ etwa, wenn die Erwerbsfรคhigkeit realistisch nicht wiederhergestellt werden kann und Lรผcken in der Erwerbsbiografie drohen.

Fazit: Prรผfen, belegen, durchhalten

Seit 2019 ist die EM-Rente aufgewertet und in vielen Konstellationen die รผberlegene Wahl gegenรผber einer vorgezogenen Altersrente. Der Preis dafรผr sind strenge Zugangsprรผfungen und mitunter lange Verfahren.

Wer frรผhzeitig handelt, die medizinischen Nachweise sauber bรผndelt und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen prรผft, verbessert seine Chancen deutlich. Sinnvoll ist es, die Erfolgsaussichten und die richtige Strategie von unabhรคngigen, gerichtlich zugelassenen Rentenberaterinnen und Rentenberatern oder von Fachanwรคltinnen und Fachanwรคlten fรผr Sozialrecht einschรคtzen zu lassen. So lassen sich unnรถtig hohe, lebenslange Abschlรคge vermeiden und der erworbene Rentenanspruch langfristig sichern.